Journalist
Warlich.jpg

Der Nadelkönig

Der Nadelkönig

Kunsthistoriker erforschen den Nachlass Christian Warlichs – und lüften dabei Geheimnisse des Urvaters der deutschen Tattoo-Szene.

(Erschienen in: Der Spiegel, Ressort Wissenschaft, Ausgabe 26/2019. Zur Online-Version)

Silke Beiner-Büth könnte in diesem Moment über vieles nachdenken, über Edith und Werner zum Beispiel. Vor ihr liegt ein Hautlappen von der Größe eines Handtellers, darauf ein Tattoo, es zeigt zwei Vögelchen. Sie tragen zwei Anhänger in Herzform, die Schnäbel berühren sich. Links neben den Anhängern steht der Name »Edith«, rechts daneben »Werner«, oben: »Treue Liebe«. Die Restauratorin treibt aber vor allem eine Frage um: Schimmelt hier etwas?

Beiner-Büth arbeitet für das Museum für Hamburgische Geschichte. Hier wird derzeit unter der Leitung des Kunsthistorikers Ole Wittmann erstmals der Nachlass des Tätowierers Christian Warlich erforscht, der ab 1919 auf St. Pauli tätowierte. Warlich gilt als Urvater der deutschen Tattoo-Kunst, seine Illustrationen waren wegweisend. Er konnte Tattoos nicht nur anbringen, sondern war auch einer der ersten, der sie professionell wieder entfernte.

Wittmann will mit seinem Forschungsprojekt die Frage beantworten: Wer war dieser Christian Warlich, der sich selbst als »König der Tätowierer« bezeichnete?

Warlich kam im Jahr 1891 bei Hannover zur Welt. Schon als Jugendlicher stach er Schulkameraden Motive auf die Haut, wie Briefe belegen. Im Alter von 14 Jahren verließ Warlich sein Elternhaus und zog nach Dortmund, wo er einige Tätowierer kennenlernte. Als Heizer heuerte er auf dem Passagierschiff »Imperator« an, es brachte ihn nach New York. Dort erstand er wohl seine erste Tätowiermaschine – und brachte sie nach Deutschland. In Hamburg angekommen, inzwischen 23 Jahre alt, heiratete Warlich, 1921 meldete er eine Schankwirtschaft an. In einem Separee, abgetrennt durch einen Vorhang, stach Warlich fortan die Tattoos, die ihn weltberühmt machen sollten.

Eines von ihnen ist auf dem Hautstück zu sehen, das nun vor Silke Beiner-Büth auf dem Tisch liegt: satte Farben und schwungvolle Linien mit zarten Fettungen, die Buchstaben hier und da etwas bauchiger machen; so hob sich Warlich von der Konkurrenz ab. Das Hautstück ist eines von 29, die sich derzeit im Museum für Hamburgische Geschichte befinden. Beiner-Büth muss klären, wie man sie konserviert, ohne dass sie Schaden nehmen.

Eigentlich arbeitet die Restauratorin in ihrer Werkstatt im Museumskeller mit klassischer Kunst wie Pastellmalereien. Als vor rund einem Jahr klar war, dass sie sich demnächst um Hautstücke kümmern würde, bat sie einige Kollegen um Rat, einen Apotheker, einen Lebensmittelforscher, eine Frau vom Landesdenkmalamt Hannover. »Die haben mir geraten, erst mal gar nichts zu machen«, sagt Beiner-Büth. Anders als bei der Restaurierung von Kunst gelte in der Konservierung oft: Hände weg! Es geht um Fragmente, die mit all ihren Makeln erhalten bleiben sollen.

Doch als sie die Hautstücke unter die Linse eines Mikroskops legte, 400-fache Vergrößerung, fand sie verdächtige weiße Stellen. Schimmel? Kann das sein? Nun muss eine Molekularbiologin der Universität Hildesheim klären, ob da etwas wächst. Bis dahin soll die Warlich-Kunst bei einer Luftfeuchte von unter 60 Prozent gelagert werden, um der Schimmelbildung vorzubeugen.

Eine weitere Frage, die sich Beiner-Büth stellt: Werden sich die Hautstücke verändern, zum Beispiel durch Rückstände des mysteriösen Ablösemittels, das Warlich damals auf die Haut auftrug, um sie danach abziehen zu können?

Die Mixtur dieses Ablösemittels galt lange Zeit als Geheimnis des Tattoo-Königs. Im Zuge seines Forschungsprojekts löste Ole Wittmann jetzt das Rätsel: Warlich hatte 1935 das Tattoo eines Matrosen entfernt, woraufhin sich dessen Hand entzündete; als die Gesundheitsbehörde davon erfuhr, musste der Tätowierer seine Methode in einem Brief dokumentieren.

Er beschrieb die Rezeptur: destilliertes Wasser, Äther, Kali, Kochsalz, arsenfreie Schwefelsäure. Warlich trug die Tinktur in der Regel mehrmals auf die betreffende Stelle auf und konnte die Haut, sobald sie abgestorben war, mit einer Pinzette abziehen. Es blieb eine Narbe zurück.

Zehn der Hautstücke mit den Tattoos von Christian Warlich gehören seit 1965 dem Hamburger Museum. Die Historiker ahnten wohl, welchen Wert das Werk des Tätowierers einmal haben könnte und kauften der Witwe Magdalena Warlich einen Teil des Nachlasses ab. Dass derzeit noch viel mehr Objekte aus Warlichs Nachlass im Museum lagern, nämlich knapp 300, liegt allein an Ole Wittmann, der zusammen mit dem Museum vor vier Jahren mit dem Forschungsprojekt begann.

Wittmann hatte sich in seiner Dissertation mit Tattoos in der Kunst befasst, dabei war ihm aufgefallen, dass noch niemand intensiv zu Christian Warlich geforscht hatte. »Es gab viele Mythen und Legenden, aber wenig war belegt«, sagt Wittmann. Er selbst ist vielfach tätowiert, zwei Motive sind von Warlich inspiriert, ein Dolch mit Schlange und ein Drachenkopf.

Wittmann wusste, dass die meisten Objekte aus dem Nachlass des Tätowierers einem Freund der Familie zukamen, Theodor Vetter, genannt Tattoo-Theo. Nach dessen Tod kaufte ein englischer Sammler viele Objekte, Wittmann trieb ihn auf und durfte sie für seine Forschung ausleihen. Das zentrale Objekt in Warlichs Nachlass aber ist sein berühmtes Vorlagealbum.

Bis zum frühen 20. Jahrhundert hatten Tätowierer ihre Vorlagen in Büchlein mit sich getragen; so zogen sie durchs Land. Als sie dann mehr und mehr sesshaft wurden, kamen die »Flash Sheets« in Mode, größere Blätter, die Warlich und andere in ihre Warteräume und Schaufenster hängten, um Kunden anzulocken. Warlich war auch abseits seiner Schankwirtschaft ein Geschäftsmann, er vertrieb Tätowiermaterial an Interessierte und tauschte sich mit Medizinern aus. »Er hat sich gut vernetzt«, sagt Ole Wittmann.

Um 1930, als Berufstätowierer noch eine Ausnahme waren, arbeitete Warlich in Weste und Krawatte und warb mit Plakaten: »Atelier moderner Tätowierungen, elektrisch schnell! Ausführungen in allen Farben«. Auch in der Zeit des Nationalsozialismus tätowierte er weiter. Zwar habe sein Laden als Treffpunkt für Hamburger Nazis gegolten, heißt es in einer Biografie von Vetter, Warlich sei aber weder rechts gesinnt noch Parteimitglied gewesen.

In seiner Kundenansprache wurde Warlich über die Jahre deutlicher. Auf einer Werbekarte vermutlich aus den Vierzigerjahren heißt es: »Alles, was der männliche Körper ausdrücken soll, steche ich ein: Politik, Erotik, Athletik, Aesthetik, Religiös!!« Erst 1962 meldete Warlich sein Tätowiergewerbe offiziell an, zwei Jahre vor seinem Tod.

Zu dieser Zeit war weithin bekannt, dass die Kunden der Tätowierer aus allen Gesellschaftsschichten stammten. Dass Tattoos einmal so allgegenwärtig sein würden wie heute, war jedoch kaum abzusehen. Nach einer Studie der Universität Leipzig aus dem Jahr 2017 ist jeder fünfte Deutsche tätowiert, bei den Frauen zwischen 25 und 34 Jahren jede Zweite. Bis heute beeinflusst Warlich die Tattoo-Szene in vielen Teilen der Welt.

Im Museum für Hamburgische Geschichte, einen Fußmarsch entfernt von Warlichs Schankwirtschaft auf St. Pauli, wird Wittmann im Herbst seine Forschungsergebnisse in einer Ausstellung präsentieren. Und er wird, eher ungewöhnlich für Wissenschaftler, seine Erkenntnisse vermarkten: Bald soll ein Rum erscheinen, dessen Etikett ein Warlich-Motiv zeigt.

Bei Instagram können Nutzer unter dem Hashtag #inspiredbywarlich Bilder von Tattoos posten, die von Warlich-Motiven angeregt sind. Mittlerweile sind dort Fotos aus dem italienischen Faenza zu finden, aus dem britischen Derby und aus Hamburg. Dort hat sich jemand ein Tattoo stechen lassen, das zwei Herzen zeigt, darunter steht: »Treue Liebe«.