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Mr. Netzhaut

Mr. Netzhaut

Blindheit ist meist unheilbar. Botond Roska will das ändern, er ist einer der wichtigsten Augenforscher der Welt. Ein Besuch bei ihm in Basel.

(Erschienen in: Die Zeit, Ressort Wissen, Ausgabe 36/2020. Zur Online-Version)

Botond Roskas Tage beginnen mit einer Schale Müsli und schwarzem Tee. Er setzt sich in einen Sessel und schließt die Augen. Vor ihm auf dem Tisch, erzählt er, lägen nur ein Blatt Papier und ein Stift. Er beginnt zu denken. Es fühle sich an, als kämen die Gedanken auf ihn zu; müsse er sie mit Farben beschreiben, wären sie gelb und orange, sagt er, wie die Provence. Manchmal vergesse er das Trinken. Für mehrere Stunden zieht er sich in seinen Kopf zurück, jeden Morgen, oft zu Hause, noch nicht im Büro. Roska träumt in diesen Momenten nicht vom Urlaub in Südfrankreich, seine Gedanken drehen sich um virale Vektoren, Genfähren, optogenetische Therapien. Botond Roska ist Neurowissenschaftler. 

Das Denken gehört für Forscher zur Jobbeschreibung. Fragt man allerdings Roskas Kollegen, sagen die, dass sein Denken ihn grundlegend von anderen unterscheide. Es fallen Wörter wie "Pionier", "außergewöhnlich", "genial". Andere Wissenschaftler sprechen über Roska mit einer Bewunderung, wie man sie selten unter Forschern hört. Es klingt, als sei er nicht ein Kollege, sondern ihr Anführer.

Botond Roska ist einer der renommiertesten Augenforscher der Welt, zusammen mit dem deutschen Augenarzt Hendrik Scholl leitet er das Institut für molekulare und klinische Ophthalmologie Basel (IOB), das die beiden im Jahr 2017 gegründet haben. Am 7. September wird Roska in Hamburg den Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft erhalten, dotiert mit einer Million Euro. Möglicherweise ein Vorbote für höhere Ehren, denn sechs der seit 1985 ausgezeichneten Wissenschaftler gewannen später einen Nobelpreis. Der 50-Jährige wird für seine Verdienste in der Erforschung des Sehens und der Netzhaut geehrt. Sein Ziel ist es, blinden Menschen ihr Augenlicht zurückzugeben. 

Ein Julimittag in der Baseler Innenstadt, die Terrasse des Restaurants liegt direkt am Rhein. Es ist heiß, die Sonne treibt die Menschen in den Fluss. Roska kommt mit seiner Assistentin zur Verabredung; sie legt ihm keine Termine in den Morgen. Erst ab dem Mittag tausche er sich mit Menschen aus, erklärt Roska und scheint das ernst zu meinen. Er bestellt Fisch und eine Cola. Seine Augen schweifen zum Rhein.

In diesem Moment fällt alles Licht, das von der Umgebung reflektiert wird, durch Roskas Pupille und wird von der dahinterliegenden Linse gebrochen. Das Licht wandert durch den wässrigen Glaskörper des Auges. An dessen hinterem Ende trifft es, spiegelverkehrt, auf die Netzhaut. Sie verwandelt das Licht in elektrische Impulse, die der Sehnerv an die Sehrinde im hinteren Teil des Großhirns weiterleitet. Das Hirn versteht: Ah, ein Fluss. So funktioniert das Sehen. 

Zuallererst möchte Roska klarstellen, dass einige Medien seine Forschung übermäßig enthusiastisch beschrieben. Sie führe derzeit nicht dazu, dass blinde Menschen scharf sehen könnten. Mithilfe seiner Entdeckungen könne man aber das kranke Auge dabei unterstützen, Signale an das Hirn zu senden. Dann komme es auf die Patienten an: Wie gut gelingt es ihnen, diese Signale zu interpretieren, um sich ein Bild der Umwelt zu machen? Für sie sei es, sagt Roska, als lernten sie eine neue Sprache. 

Es gibt viele Ursachen dafür, dass Menschen ihr Augenlicht verlieren. Roska forscht an Therapien für die Retinitis pigmentosa. Eine Krankheit, die die lichtempfindlichen Zellen, die Fotorezeptoren, in der Netzhaut absterben lässt. Dadurch verengt sich das scharfe Sehfeld bis auf die Größe eines Sesamkorns, oft erblinden die Betroffenen am Ende. Unter der Krankheit leiden laut der Vereinigung Pro Retina allein in Deutschland bis zu 40.000 Menschen. Bisher gilt sie als unheilbar. Roska will das ändern.

Einer derjenigen, die die Netzhaut am besten verstehen

Der Forscher nutzt dafür eine Methode, die man Optogenetik nennt. Roska hat sie nicht erfunden, aber in die Augenheilkunde überführt – das sehen viele als seinen wichtigsten Beitrag an. Die Methode war ursprünglich in den 2000er-Jahren entwickelt worden, um die Arbeit des Gehirns besser zu verstehen. Neurowissenschaftler machten Nervenzellen im Hirn von Tieren lichtempfindlich, sodass sie einzelne davon mit Lichtimpulsen anschalten und ihre Funktion beobachten konnten. "Botond Roska ist auf die Idee gekommen, diese Technik zu nutzen, um die Netzhaut nach einer Erblindung wieder empfindlich für Licht zu machen – sie besteht schließlich auch aus Nervenzellen", sagt Marius Ueffing, Direktor des Instituts für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Tübingen. Roska tat sich mit mehreren Spezialisten zusammen, die Ergebnisse publizierten sie unter anderem 2010 in der Fachzeitschrift Science.

Derzeit testet die von Roska mitgegründete Firma GenSight die Methode an sieben Probanden in Paris, London und Pittsburgh. Alle sind blind. Sie sind im Schnitt 50 Jahre alt, haben ein Job, manche haben Kinder. Wenn Therapien zum ersten Mal am Menschen ausprobiert würden, erfülle ihn das mit einem "Mix aus Freude und Angst", sagt Roska. "Plötzlich ist da ein Mensch mit einer persönlichen Geschichte, einer Familie dahinter. Da darf nichts schiefgehen." Die Forscher schleusen lichtempfindliche Zellbausteine aus Algen in die Netzhaut der Patienten. Dort sollen sie die Aufgabe der abgestorbenen Fotorezeptoren übernehmen. Eine Spezialbrille verstärkt das einfallende Licht. Es ist die erste Studie dieser Art am Menschen, sagt der Tübinger Augenforscher Ueffing.

Eigentlich wollte der Ungar Botond Roska kein Wissenschaftler werden. Als Kind, geboren 1970 in Budapest, spielte er Cello und besuchte die Franz-Liszt-Musikakademie. Er übte mehrere Stunden am Tag, mit seiner Mutter, einer Pianistin, gab er Konzerte. Manchmal schlief er unter ihrem Flügel. Doch eine Fahrradtour beendete seine Karriere als Cellist: Um etwas zu reparieren, griff er bei voller Fahrt ins Hinterrad und verlor dabei zwei Fingerkuppen.

Ihm blieb die Mathematik, seine zweite Leidenschaft. Oft nahm er an Wettbewerben teil, sein Vater arbeitete als Computerwissenschaftler. "Meine Kindheit war wundervoll, ich hatte ausschließlich mit interessanten Dingen zu tun", sagt Roska. Er studierte Mathematik und Medizin, doch Arzt wollte er nicht werden, die Arbeit erschien ihm zu starr. Roska sagt über sich selbst, er finde es unheimlich langweilig, eine Liste von oben nach unten durchzuarbeiten.

Als Roska 25 Jahre alt war, erzählte ein Freund seines Vaters bei einem Abendessen von seiner Forschung an der Netzhaut. Das Besondere an ihr sei, dass sie einen Eingang habe und einen Ausgang, und was dazwischen passiere, könne man untersuchen, sogar in einer Petrischale. Aus diesem Grund werde man die Netzhaut eines Tages vollständig verstehen können. "Ich war fasziniert", sagt Roska. "Mir wurde klar, dass das bei keinem anderen Teil des Gehirns möglich ist." 

Nach seinem Studium der Mathematik und Medizin promovierte Roska in Neurobiologie an der University of California in Berkeley und forschte dann an der Harvard University auf den Gebieten der Genetik und Virologie. Von 2005 bis 2017 leitete er eine Forschungsgruppe am privaten Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research in Basel. 

Heute gilt Roska als einer derjenigen, die die Netzhaut am besten verstehen. 2018 gelang es ihm und seinem Team, eine künstliche Netzhaut zu züchten, die alle Schichten des Originals enthält – eine Weltpremiere. An ihr können die Wissenschaftler erforschen, in welchen Zellen genetische Defekte auftreten, und Therapien erproben.

Forschung und Klinik stärker vereinen

Roskas große Stärke sei es, Experten aus den unterschiedlichsten Fachgebieten zusammenzubringen, sagt der Tübinger Augenforscher Ueffing: "Er hat den Überblick, die Kompetenz und die Überzeugungskraft, die Besten im Feld auf ein Ziel festzulegen." Roska, das wird im Gespräch mit seinen Kollegen deutlich, arbeitet wie ein Dirigent. Robin Ali, Direktor des Zentrums für Zell- und Gentherapie am King’s College London, sagt: "Viele Wissenschaftler betrachten alles aus der engen Perspektive eines Fachs." Roska dagegen vereine Molekularbiologie, die Zellbiologie der Netzhaut und die theoretische Neurowissenschaft. Der Ungar bringe das Feld entscheidend voran, und andere folgten. "Normalerweise lobe ich meine Konkurrenten nicht auf diese Weise", sagt Ali. "Aber er hat es verdient." 

In seinem Institut in Basel will Roska nun Forschung und Klinik stärker vereinen. Lange seien Innovationen in der Augenheilkunde sehr langsam entstanden, sagt er, weil Grundlagenforscher wie er die Bedürfnisse der Patienten nicht gut genug kennen würden. Erst kürzlich sind die Forscherinnen und Forscher des IOB in ihr neues Gebäude gezogen. Neun Stockwerke, Dachterrasse mit Blick über Basel. Finanziert wird das Institut von der Universität Basel und dem zugehörigen Spital, dem Kanton Basel-Stadt und dem Pharmaunternehmen Novartis, 14 Millionen Euro betrug das Budget im Jahr 2019. Derzeit beschäftigt das IOB 100 Menschen, 170 sollen es einmal werden.

Morgens, wenn er nachdenke, schwirrten ihm immer mehrere Fragen gleichzeitig durch den Kopf, sagt Roska. Derzeit beschäftige ihn vor allem, wie man noch größere Bereiche der Netzhaut lichtempfindlich machen könnte. Wenn er von seinem Denkprozess erzählt, davon, wie er auch mal mitten im Supermarkt die Augen zugemacht habe, sodass seine Assistentin dachte, es gehe ihm nicht gut, klingt das verschroben, vielleicht kokettiert er auch ein wenig. Roska lebt allein und liebt es, zu arbeiten. 

Gleichzeitig wirkt er durchaus wie ein sozialer Typ, stellt interessierte Gegenfragen und unterhält sich auch gern über Nebensächliches: Seit Kurzem schaue er auf YouTube alte Schwimmwettkämpfe. Zuletzt habe er sich Michael Phelps bei den Olympischen Spielen 2008 angeschaut, der US-Amerikaner holte damals acht Goldmedaillen, mehr als je ein Athlet zuvor. "Stellen Sie sich vor, Sie trainieren jahrelang, und dann entscheidet der Bruchteil einer Sekunde darüber, ob sich jemand für Sie interessieren wird", sagt Roska. In der Wissenschaft sei das anders, jeder trage zum Erfolg bei, alles baue aufeinander auf. Aber natürlich weiß er, dass es auch in der Wissenschaft Stars gibt, Stars wie ihn. Vielleicht reizen ihn Phelps’ Triumphe auch deshalb.

Es kann noch Jahre dauern, bis viele Menschen von den Therapien, die Roska erforscht, profitieren können. Doch schon jetzt machen sich nicht wenige Hoffnung. Täglich bekomme er mindestens eine Mail von Betroffenen, sagt Roska. Nach der Veröffentlichung eines neuen Ergebnisses seien es etwa 60 pro Woche. Manche Schreiber wollten am liebsten am nächsten Tag therapiert werden, was natürlich nicht möglich sei. Andere bedanken sich für seine Arbeit, im vergangenen Juni zum Beispiel die Mutter des 17-jährigen Matthias Kries, der in der Eifel wohnt.

Als er elf Jahre alt war, erzählt der Schüler am Telefon, wurde bei ihm Retinitis pigmentosa diagnostiziert. Seine Sehkraft nahm Stück für Stück ab. Jetzt verfügt er noch über etwa fünf Prozent – er sieht nur auf einem winzigen Fleck scharf. Rundherum sei "einfach nichts". Er will das Abitur machen, aber für die Lektüre im Deutsch-LK braucht er Hörbücher. Er wohnt auf dem Land, aber er darf keinen Führerschein machen. Er fährt gern Ski, aber das geht nur noch, wenn jemand in einem grellen Outfit vor ihm herfährt, zur Orientierung. Seine Ärzte sagen, Matthias könnte mit 30 sein Augenlicht verloren haben. Die Erblindung sei wie ein riesiger Klotz, der in der Zukunft stehe, sagt der junge Mann aus der Eifel. Die Erfolge des ungarischen Augenforschers in Basel gäben ihm das Gefühl, es bewege sich etwas, als rücke der Klotz zur Seite, wenigstens ein Stück.

Foto: Joan Minder für Die Zeit