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Da kommt was hoch

Da kommt was hoch

Die "Clotilda" schmuggelte 1860 die letzten Sklaven aus Afrika in die USA. Dann wurde das Schiff versenkt. Nun arbeiten Forscher an der Bergung des Wracks – vor den Augen der Nachfahren.

(Erschienen in: Die ZEIT, Ressort Wissen, Ausgabe 33/2022. Zur Online-Version)

Man kann das Schiff nicht sehen, es liegt im Brackwasser, metertief, wo kein Licht es erreicht. Und doch geht seine Reise weiter. Sie begann vor 162 Jahren, schon damals im Schutz der Dunkelheit. Anhand von Quellen lässt sie sich rekonstruieren:

Ein Zweimaster, 26 Meter lang. Maximale Breite des Decks: sieben Meter, so steht es in der Schiffslizenz. Der Frachtraum ist zwei Meter hoch. Am 4. März 1860 verlässt die "Clotilda" den Hafen von Mobile, Alabama, in Richtung Westafrika. Es ist Nacht. Sie darf nicht entdeckt werden.

An einem heißen Maiabend im Jahr 2022 strömen in Africatown, Alabama, Schaulustige ins Hope Community Center. Für manche könnte der Ort keinen besseren Namen tragen – hope, Hoffnung. Zum Beispiel für Joe Womack. Mit seinem Fischerhut steht er im Publikum und lauscht der Pressekonferenz, zu der Alabamas Denkmalschutzbehörde geladen hat. Politikerinnen sind da, internationale Medien, Kameras. Getuschel. Auf dem Podium sitzt ein Forschungsteam aus Archäologen und Tauchern. Es geht um die Clotilda.

Jeder hier kennt ihre Geschichte: Die Clotilda war im Jahr 1860 das letzte Schiff, das Afrikaner als Sklaven in die USA brachte – mit ihr endete eine Ära. Später gründeten einige der über hundert Sklaven ein eigenes Dorf, in dem manche der Nachfahren noch heute wohnen: Africatown. Das Schiff wurde nach der Ankunft versenkt und galt als verschollen – bis es 2019 wiederentdeckt wurde, am Grund des Mobile River, nur ein paar Minuten vom Dorf entfernt. Die Meldung ging um die Welt. Seitdem steht eine Frage im Raum: Was soll mit der Clotilda geschehen? Soll sie geborgen werden, oder bleibt sie im Fluss? Diese Fragen will das vom Staat Alabama finanzierte Projekt nun beantworten.

Joe Womack bedankt sich beim Forschungsteam, nach ein paar netten Worten fragt er: "Wann holt ihr das Schiff endlich aus dem Wasser?" Der Archäologe Jim Delgado lächelt müde, er leitet das Projekt. "Zuerst brauchen wir mehr Informationen über das Wrack", sagt er. "Keinem wäre geholfen, wenn es in zwei Teile bricht." Womöglich sei es sogar besser, deutet Delgado an, das Schiff im Wasser zu lassen. Womack grummelt, das war nicht, was er hören wollte.

Denn Womack und viele Nachfahren der Sklaven haben große Pläne mit dem Wrack. Sie wollen es ausstellen, Millionen von zahlenden Touristen in das heute heruntergekommene Africatown locken und Menschen mit der rassistischen Geschichte der USA konfrontieren – die Clotilda, ein Symbol des Bösen, soll zu einem Treiber des Guten werden. Aber nicht alle sehen das so. Manche aus der Community glauben nicht an den positiven Effekt eines alten Wracks und sehen in ihm eine Gefahr. Sie fürchten, Touristenmassen könnten Africatown zerstören, und halten die Kosten einer Bergung des Wracks für verschwendete Millionen. Einer von ihnen ist Emmett Lewis, Ururururur-Enkel eines Mannes namens Cudjo Lewis, der an Bord der Clotilda als Sklave nach Alabama kam. Er ist zur Pressekonferenz nicht erschienen.

Die Clotilda ist eines der wenigen Sklavenschiffe, die weltweit entdeckt wurden. 20.000 Schiffe waren laut Historikern am transatlantischen Sklavenhandel beteiligt – der größten erzwungenen Migration aller Zeiten. Das Wrack erinnert an ein globales Unrechtssystem, an dem sich auch Europa bereicherte; europäische Männer stopften ihre Pfeifen mit Tabak aus Amerika, Wolle aus Alabama wurde in deutschen Webstühlen zu Kleidung verarbeitet. Schätzungsweise zwölf Millionen Afrikaner wurden während der Sklaverei ihrer Heimat entrissen, rund 460.000 landeten in den USA. Heute leben dort 47 Millionen schwarze Amerikaner.

In Africatown zeigt sich nun die Herausforderung eines modernen archäologischen Projekts. Die Forscher müssen nicht nur herausfinden, in welchem Zustand sich ihr Forschungsobjekt befindet – sondern auch, was die Nachfahren wollen. Der Gegenstand und seine Bedeutung, beides gehört zusammen. Und somit lautet die zentrale Frage in Alabama am Ende nicht, ob das Schiff geborgen werden kann – sondern ob man es bergen sollte.

Planken aus Eiche und Gelb-Kiefer, Nägel aus verzinktem Eisen. Die "Clotilda" transportiert jahrelang Kaffee, Tabak, Whiskey und Wolle quer durch den Golf von Mexiko; das belegen Dokumente der Zollbehörde. Dann gibt Timothy Meaher, ein weißer Land- und Sklavenbesitzer, dem Kapitän William Foster den Auftrag, Sklaven zu beschaffen. Deren Import ist seit 1808 verboten, ein Zeichen des sich langsam wandelnden Zeitgeists – doch Baumwollproduktion und -export boomen, der größte Teil kommt aus Alabama, gepflückt von Sklaven aus Afrika. Die "Clotilda" ist schnell und schneidet durch die Wellen des Atlantiks.

Zwei Tage nach der Pressekonferenz, morgens um kurz nach sieben, steigt der Taucher Jay Haigler in ein kleines Boot. Es soll ihn zum Wrack der Clotilda bringen. Pelikane gleiten durch die Luft. Haigler wirkt eher wie ein Football-Spieler, er misst 1,90 Meter und wiegt 120 Kilo, sein Lachen donnert. Er sagt, für ihn gebe es nur zwei Arten von Tagen: solche, an denen er taucht, und solche, an denen er wartet, wieder tauchen zu dürfen. Haigler ist Mitglied in der Nationalen Vereinigung Schwarzer Taucher und Gründungsvorstand eines Vereins, der weltweit nach Schiffen aus dem Sklavenhandel sucht.

Bisher wurden erst neun Wracks lokalisiert, obwohl mehr als 1000 Sklavenschiffe sanken, davon geht das Slave Wrecks Project aus, ein Zusammenschluss wissenschaftlicher Institutionen aus mehreren Ländern. Die Henrietta Marie war in den 1980er-Jahren das erste Schiff, das identifiziert wurde, es war vor Florida gesunken; 2015 wurde die Sao José vor Kapstadt gefunden. Die Guerrero, die vor den Florida Keys liegen soll, sucht Haigler momentan. "Lange haben diese Schiffe die archäologische Community nicht interessiert", sagt Haigler. "Es zeigt, wer in der Vergangenheit Forschung betrieben und finanziert bekommen hat." Haigler meint: weiße Menschen.

Die "Clotilda" legt am 15. Mai 1860 im Königreich Dahomey an, auf dem Gebiet des heutigen Benin. In der Hafenstadt Ouidah betreibt König Glélé einen der größten Umschlagplätze für Sklaven in Afrika. Er verkauft der Crew der "Clotilda" 110 Menschen, die er gefangen genommen hat; sie gehören zu Ethnien wie Yeruba, Hausa oder Fon, heißen Gumpa, Abache oder Kossola und werden später in Alabama Namen wie Rose Allen, Samuel Johnson oder Cudjo Lewis annehmen. Lewis wird später in Interviews erzählen, sie hätten auf der Reise nach Alabama erst am dreizehnten Tag an Deck gedurft; die Wellen beschreibt er als "knurrend wie tausend Monster". Sie hätten sich ausziehen müssen und in Alabama dann als "nackte Wilde" gegolten. Am 8. Juli 1860 erreicht die "Clotilda" nach vier Monaten und vier Tagen die Hafenstadt Mobile, am Golf von Mexiko. Von dort aus führt der Mobile River nach Alabama hinein.

Haiglers morgendliche Route zum Wrack ist dieselbe, die damals die Clotilda bei ihrer Rückkehr nahm. Den Mobile River hoch, vorbei an Sumpfzypressen und Sauergras am Ufer. "Die meisten Afroamerikaner wissen nicht, wer ihre Vorfahren sind oder wie sie aus Afrika in die USA gelangten", sagt Haigler – erst seit 1870 sind Afroamerikaner Teil des US-Zensus, für die Zeit davor fehlen oft Dokumente. Dass die Nachfahren durch die gut dokumentierte Geschichte der Clotilda genau wissen, woher sie stammen, mache das Schiff zu einem bedeutenden Puzzleteil auch für andere Afroamerikaner, sagt Haigler. Auf dem Weg spreche er jeden Morgen ein Gebet.

Während die "Clotilda" den Fluss emporfährt, muss Kapitän Foster unentdeckt bleiben – für den Sklavenimport können er und sein Auftraggeber Timothy Meaher gehängt werden. Nach wenigen Meilen lässt er die Passagiere in einem Schilfgebiet an Land schaffen. Er segelt weiter, ein paar Meilen noch. Dann legt er Feuer, er will Spuren verwischen und öffnet die Ventile des Schiffsrumpfes. Die "Clotilda" sinkt. Foster rettet sich von Bord. Er und Meaher werden später angeklagt und freigesprochen, aus Mangel an Beweisen.

"Die Clotilda ist das besterhaltene Sklavenschiff, das wir kennen", sagt der Archäologe Jim Delgado an einem Morgen im Hotel, einen Burrito in der Hand, bevor er aufbricht zum Wrack. Der sauerstoffarme Schlamm habe es am Boden des Mobile River versiegelt wie eine Zeitkapsel. Delgados Team arbeitet von einer Plattform im Wasser, die schräg über dem Wrack schwimmt und rund um die Uhr von Sicherheitsleuten bewacht wird. Der Fluss ist hier hundert Meter breit. Ein Krahn ragt in die Höhe, Schiffscontainer dienen als Büros, alle tragen Helm und Stahlkappenschuhe. Für das industriell anmutende Forschungsprojekt brauchte es die Erlaubnis des US-Heeres; nur das Forschungsteam darf auf die Plattform. Außenstehende können mit einem Boot bis auf 90 Meter heranfahren, dann wird man von der Küstenwache verscheucht – "bootsfreie Zone". Niemand darf zuschauen, auch keine Journalisten.

Haigler erzählt, er erreiche den Bug der Clotilda bei Hochwasser nach eineinhalb Metern, das Heck liegt in knapp acht Meter Tiefe, in absoluter Dunkelheit, bedeckt mit Schlamm. Die Clotilda liege zur Seite geneigt, nah am Ufer. "Mit den Händen taste ich entlang der Holzplanken, vom Bug abwärts in Richtung Heck, und erfühle die Innenseite des schlammgefüllten Rumpfs, in dem die Passagiere eingesperrt waren." Beim Tauchen, sagt Haigler, empfinde er Verantwortung gegenüber den Nachfahren der Clotilda-Passagiere. "Wir helfen ihnen, die bestmögliche Entscheidung zu treffen, was mit dem Schiff geschehen soll."

Auf der Plattform wartet Delgado auf das, was der bullige Haigler und seine Kollegen emporbringen. Konservatoren legen alles in einen riesigen Tank mit Wasser aus dem Fluss – an der frischen Luft könnten sich Salzkristalle bilden, die das Holz spalten und es austrocknen lassen. Am Wrack entfernen die Taucher mit Saugern Schlamm und Sediment aus dem Rumpf, gerade so viel, um das Wrack nicht zu destabilisieren. Alles wird gesiebt und ins Labor geschickt, damit Meeresbiologen die Proben später untersuchen können. Ein 3-D-Scanner erstellt Bilder, ein Sonar soll mithilfe von Schallwellen die bisherigen Bilder vom Wrack verbessern, ein anderes Gerät misst die Strömung. Fragen über Fragen: Wie beeinflusst die Strömung das Wrack? Wie vermischen sich an dieser Stelle das Süßwasser des Flusses und das Salzwasser des Ozeans? Wie stabil ist das Holz? Ist es möglich, das Schiff emporzubringen?

Nachdem die Afrikaner von Bord gegangen sind, arbeiten sie fünf Jahre als Sklaven; in Reis-, Zucker- und Baumwollplantagen, auf Dampfschiffen auf dem Mobile River, wie Cudjo Lewis. Die Überfahrt haben mindestens 108 von ihnen überlebt, einige Quellen geben die Zahl mit 110 an. Mit dem Ende des Bürgerkriegs 1865 kommen sie frei. Sie wollen zurück nach Afrika, doch weil die Mittel fehlen, bleiben sie. Nach einem Jahr können sie einen knappen Hektar Land erwerben und gründen so ihr eigenes Afrika in Alabama: Africatown. Unter ihnen ist Cudjo Lewis. Auf 12.000 Einwohner wächst der Ort an, das ist in den 1960er-Jahren. Chemie- und Papierfabriken bieten Arbeitsplätze, es gibt Restaurants, Discos und Pfirsichbäume.

Joe Womack ist in Africatown geboren. Am vierten Tag der Untersuchung, während die Wissenschaftler am Wrack arbeiten, steigt der 72-Jährige in einen Kleinbus – er will ein paar Gästen das Dorf zeigen und von seinen großen Plänen erzählen. Womack hat wieder seinen Fischerhut auf. Er steht mit dem Rücken zum Fahrer und spricht ins Mikro wie ein Reiseführer: "Die Clotilda sollte in einem Museum ausgestellt werden, hier im Dorf!" Das Schiff könne Besuchern die geteilte Geschichte Amerikas und Afrikas verdeutlichen. Womacks Vorfahren wohnten schon in Africatown, er hat seine Herkunft erforscht, die Aufzeichnungen reichen zurück bis 1880. Ob er von den Clotilda-Passagieren abstammt? Möglich, sagt er. Er ist gut vernetzt, der Präsident der Clotilda Descendants Association, einer Nachfahren-Vereinigung, unterstützt ihn. Durch den Ortskern soll es Führungen geben. Tourismus, Steuereinnahmen – das Schiff soll die guten Zeiten zurück nach Africatown bringen. Denn die sind lange vorbei.

Nach dem Boom schrumpft der Ort. Das Ende der Segregation im Jahr 1964 schafft neue Möglichkeiten für Afroamerikaner; viele verlassen den Ort. Fabriken schließen, und die Crack- Epidemie trifft auch Africatown. Der Ort wird in die Hafenstadt Mobile eingemeindet, Häuser werden abgerissen. Mehr Menschen ziehen weg, bis nur noch 2000 übrig sind.

"Einige der Häuser sind heruntergekommen", sagt Womack und zeigt rechts und links aus dem Busfenster. "Aber es gibt sehr viel Potenzial. Hier zum Beispiel könnte ein Hotel stehen!" Und: "Die Menschen sollen nach Africatown kommen, um zu heiraten, wie in Las Vegas!" Im Bus sitzt auch die Archäologin Gabrielle Miller. Sie arbeitet für das Smithsonian Museum of African American History and Culture in Washington, D. C., der Hauptstadt, und ist hier, um Menschen wie Womack zuzuhören. Miller sagt: "Archäologie existiert nicht ohne Kontext. Es geht nie nur um den Gegenstand – erst durch die Geschichten der Menschen wird er komplett." Sie will wissen: Was verbindet das Dorf heute mit der Clotilda? Wie stellen sich die Menschen die Zukunft von Africatown vor?

Miller ist 29 und gehört zu einer Generation von Wissenschaftlerinnen, die ihre Arbeit auch als eine politische verstehen. Die Archäologie ist für sie ein Mittel, um Gerechtigkeit herzustellen, so sieht sie das. "Es gibt wenige Beispiele, die uns Afroamerikaner so direkt mit Afrika verbinden wie die Clotilda. Dieser Teil unserer Geschichte wurde lange ignoriert, und wir fördern ihn nun wieder zutage."

Ein paar Straßen weiter wohnt jemand, der die Dinge anders sieht als Womack: Emmett Lewis, der Ururururur-Enkel von Cudjo Lewis. In seinem Haus nutzt der 32-Jährige eine kleine Kammer als Barbershop. Südstaaten-Rap wummert aus einer hüfthohen Box. Lewis erzählt: "Mein Vater hat mir immer gesagt, dass ich etwas Besonderes bin." Er hat Dreadlocks, vier Goldzähne, auch der Rasierer in seiner Hand ist golden. "Du bist ein Nachfahre von Cudjo!", habe ihm sein Vater eingebläut, immer wieder.

In der Schule, sagt Lewis, habe er kaum etwas über seine afrikanische Herkunft gelernt – "als hätten die USA nicht gewollt, dass wir das Land von seiner schrecklichen Seite kennenlernen". Von seinem Vater habe er Cudjos Geschichte überliefert bekommen und sich den Rest über Sklaverei, Segregation und Rassismus angelesen, sagt Lewis. Dass die Clotilda nun Menschen helfen soll, sich zu informieren, obwohl die sich bisher nie für diese Themen interessierten? Es klingt, als gönne Lewis ihnen das nicht: "Wir leben hier im Süden immer noch aufgeteilt in Weiße und Schwarze. Beim Karneval gibt es hier eine weiße Parade und eine schwarze. Konföderationsflaggen überall. Glaubst du, das Schiff ändert das?"

Für die Finanzierung eines Museums kämpfen, um die Clotildaauszustellen, Restaurantketten anlocken, weiße Touristen durch die Straßen führen wie in einem Zoo? "Das Africatown, das Cudjo aufgebaut hat, geht so kaputt", sagt Lewis. Ginge es nach ihm, hätte die eine Million Dollar, die Alabama für die Untersuchung des Schiffs ausgibt, lieber direkt in das Dorf fließen sollen.

Ein Lokalreporter namens Ben Raines entdeckt die "Clotilda", als er historische Quellen durchforstet – Zeitungsartikel aus dem 19. Jahrhundert, Notizen des Sklavenbesitzers Meaher und des Kapitäns Foster, Interviews mit den Überlebenden. Er findet unterschiedliche Angaben, wo sie gesunken sein soll; viele Quellen erwähnten den Ort Twelve Mile Island, eine kleine Insel im Mobile River. Dort findet man das Wrack.

Am Ende der zwölftägigen Untersuchung im Mai stehen neue Erkenntnisse. Der Projektleiter Jim Delgado sagt: "Unser Wissen über die Clotilda hat sich verdoppelt." Sein Team brachte einen Teil der Kapitänskajüte empor, eine halbe Ledersohle und etliche Holzreste, Nägel, Bolzen. Eine Klüse, durch die das Seil mit dem Anker hinabglitt, als die Clotilda vor Afrika anlegte. Einen Teil der Steuervorrichtung. Zudem mehrere Deckbalken, die Auskunft darüber geben könnten, wie viel Platz Cudjo Lewis und die anderen an Bord hatten. Manches Holz sei gesund und rieche noch nach Harz, sagt Delgado, anderes sei marode und wurmzerfressen. Die Untersuchung gehe nun im Labor weiter.

Bald soll ein offizieller Bericht erscheinen, in dem Delgado und sein Team eine Empfehlung geben, was mit der Clotilda geschehen soll. Es klingt, als halte er es für keine gute Idee, das Schiff komplett aus dem Wasser zu holen. "Das kann Jahrzehnte dauern und mehrere Millionen Dollar verschlingen", sagt Delgado. Die Kosten für die Konservierung eines Schiffs außerhalb des Wassers stünden im Verhältnis von 10 : 1 zu den Bergungskosten. Der schwedische Dreimaster Vasa beispielsweise sei vor 60 Jahren geborgen worden, und die Untersuchung der Einzelteile sei immer noch nicht abgeschlossen.

Es gibt eine Empfehlung der Vereinten Nationen, formuliert ist sie in der Konvention zum Schutz des Kulturerbes unter Wasser. Dort steht: "Die Erhaltung an Ort und Stelle ist als erste Option in Betracht zu ziehen." Das hieße, das Schiff bleibt im Wasser. Im Clotilda-Projekt begegnen die Archäologen einer grundsätzlichen Frage ihres Fachs. Welche Rolle spielt die Gegenwart beim Erforschen der Vergangenheit? Das Team um Jim Delgado hatte schon eine Gedenkstätte am Ufer vorgeschlagen, dort, wo das Wrack sank – eine Art Pilgerort. Das aber will kaum jemand in Africatown. Denn der Uferstreifen gehört den Nachfahren Timothy Meahers. Jenes Mannes, der die Reise der Clotilda finanzierte.

Ganz verschollen war die "Clotilda" nie. In der Mitte des Rumpfes ragen heute abgebrochene, zackige Planken in verschiedene Richtungen. Spuren einer Detonation. Zeitzeugenberichte legen nah, dass ein Nachfahre Meahers in den 1960er-Jahren das Schiff unter Wasser sprengte.

Die Meahers wohnen bis heute in Mobile, in Africatown gehören ihnen rund 100 Hektar Land; in der Presse äußern sie sich zur Clotilda nicht. Der Taucher Jay Haigler ist froh, dass das Schiff erforscht wird – für ihn ist das wie für die Archäologin Gabrielle Miller ein Zeichen von Gerechtigkeit. Joe Womack fragt sich, wieso das Ding nicht längst aus dem Fluss geholt wurde – mit genug Geld sei schließlich alles möglich. Der Archäologe Jim Delgado ist sich immer sicherer: Wenn, dann müsse das Schiff bis auf den letzten Nagel auseinander- und an Land wieder zusammengebaut werden; das Material halte der Bergung sonst nicht Stand.

Ist das Wrack ein Segen oder ein Fluch? Emmett Lewis, der Nachfahre, sagt, die Clotilda solle im Wasser bleiben. Dort richte sie am wenigsten Schaden an.