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Das Rätsel vom Schari-Fluss

Das Rätsel vom Schari-Fluss

Der Guinea-Wurm, eine der großen Menschheitsplagen, soll offiziell bald ausgerottet sein. Doch plötzlich findet sich der Parasit auch bei Hunden. Die Reportage aus dem Tschad zeigt, warum Krankheiten so schwer weltweit zu besiegen sind.

(Erschienen in: Die Zeit, Ressort Wissen, Ausgabe 21/2019. Zur Online-Version)

Wie jeden Tag schlendert Ousmane Abgoudja durch das Dorf, um dafür zu sorgen, dass der kleine Drache aus der Welt verschwindet. Die heiße Sonne treibt ihm Schweißperlen auf Stirn und Nacken. Er streift vorbei an Bohnensträuchern, Wasserpumpen und Lehmhütten. Plötzlich rennt ein Junge in einem Trikot des Fußballclubs Paris Saint-Germain auf Abgoudja zu: "Hey, Ousmane!" Beide wissen, wohin sie gehen. Immer mehr Kinder des Dorfes folgen ihnen, sie sehen jetzt aus wie eine Jugendmannschaft mit ihrem Trainer, der kleine Junge wie ihr Kapitän.

Der Name des Jungen lautet Baana Pay. Gestern Morgen hatte er eigentlich nur den Hund der Familie füttern wollen, Fischsuppe zum Frühstück, da fiel ihm die Beule am Bein des Tieres auf. Als Abgoudja kurz darauf im Dorf eintraf, erzählte ihm Baana davon. Die beiden banden die Hündin an den Hirsespeicher, wo sie jetzt noch immer liegt, im Schatten.

Ousmane Abgoudja nimmt ein paar Gummihandschuhe aus dem Rucksack und streift sie sich über. Dann umfasst er vorsichtig das Bein und schaut auf die Wunde der Hündin, sie knurrt. Ob der kleine Drache sie infiziert hat? Es wäre der neunte Hund mit der Krankheit in Bandama, diesem staubigen Dorf am Rande des Schari-Flusses, im Süden des Tschads.

Kleiner Drache aus Medina heißt der Parasit, lateinisch Dracunculus medinensis, bekannter ist er unter dem Namen Guinea-Wurm. Noch 1986 befiel er 3,5 Millionen Menschen weltweit. Jetzt ist der Tschad seine letzte Bastion. Der Wurm gelangt in der Regel mit dem Trinkwasser in den Körper, durchquert die Schleimhäute im Magentrakt, schlängelt sich durch die Extremitäten und wächst auf bis zu einen Meter an. Erst nach 12 bis 14 Monaten bohrt er sich durch die Haut nach außen, meist am Fuß. Seine Opfer haben große Schmerzen, manche können monatelang nicht arbeiten – eine Katastrophe für Familien, die sich selbst versorgen. Selten ist der Wurm tödlich, doch manche Patienten tragen schwere Behinderungen davon. Einen Impfstoff gibt es nicht.

1986 schmiedeten die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das vom Ex-US-Präsidenten Jimmy Carter gegründete Carter Center mit den Regierungen der betroffenen Länder einen Plan: Sie wollten den Guinea-Wurm ausrotten. Neben den Pocken wäre es die zweite Krankheit, bei der der Menschheit das gelungen wäre. Nach zehn Jahren gab es nur noch 153.000 Fälle. 2006 noch 25.000. Und 2018 waren es gerade einmal 28.

Manche glauben deshalb, das Problem sei bald gelöst. Andere beginnen in diesen Tagen daran zu zweifeln. Denn plötzlich befällt der Guinea-Wurm nicht nur Menschen, sondern auch Tiere. Fast alle seiner Opfer sind Hunde, und bis auf wenige Ausnahmen passiert das nur im Tschad. Nicht nur in Bandama, sondern auch in rund 1800 weiteren kleinen Dörfern am Rand des Schari-Flusses, der sich aus dem Süden des Landes dem Tschadsee entgegenschlängelt.

Niemand weiß, wie sich die Tiere im Tschad den Wurm einfangen, niemand weiß, ob sich dadurch auch wieder Menschen anstecken werden. Der Guinea-Wurm ist jetzt ein Rätsel, ein Tschad-Rätsel. Ousmane Abgoudja und 600 weitere Männer sollen helfen, es zu lösen. Machen sie ihren Job nicht richtig, übersehen sie einen Fall, haben sie kein Auge auf die Menschen und ihre Hunde – dann wütet der Wurm weiter.

Heute geht Abgoudja auf Nummer sicher und lässt die Hündin angeleint. Er rollt sich die Handschuhe von den Fingern und macht ein paar Schritte auf eine Frau zu, die vor einer Hütte rote Hirsekörner sortiert. "Hallo!", sagt Abgoudja und hält ihr ein kleines Kärtchen entgegen, das er an einer Kordel um den Hals trägt. Eine Hundepfote ist darauf zu sehen, aus der ein Wurm austritt. "Was ist die Belohnung, wenn du etwas Seltsames an deinem Hund entdeckst und ihn dann anleinst, bis wir wissen, ob es der Guinea-Wurm ist?", fragt er sie. Die umherstehenden Kinder kichern stolz. Sie kennen die Antwort: Es sind drei Stückchen Seife.

Jeden Morgen setzt sich Abgoudja auf sein altes Moped und knattert in die 19 Dörfer, für die er zuständig ist. Er selbst lebt ein paar Kilometer entfernt von Bandama, die Leute in der Gegend kennen ihn. Seit 2013 macht der 26-Jährige diesen Job, es war der erste, den er nach der Schule bekam. Seine Aufgabe ist es, die Dörfler zu warnen: Lasst niemanden unbeaufsichtigt, egal ob Hund oder Mensch, der Symptome wie offene Wunden, Blasen und Schwellungen hat. Und verhindert, dass er sich einem Teich oder Fluss nähert. Denn wenn der Guinea-Wurm durch die Haut bricht, halten viele Infizierte den befallenen Körperteil ins Wasser, um den Schmerz zu lindern. In genau diesem Augenblick entlässt der weibliche Wurm Hunderte kleine Eier – Larven, die darauf warten, den nächsten Wirt zu befallen, der zum Wasser kommt.

Seit 2017 verteilt das tschadische Gesundheitsministerium Prämien, wenn Menschen sich bei Verdachtsfällen an Abgoudja und seine Kollegen wenden. Drei Stücke Seife gibt es, wenn ein Tier mit Symptomen angeleint wird; umgerechnet drei Euro, wenn es ein Tier ist, bei dem der Wurm schon austritt. Menschen, die den Wurm haben, bekommen bis zu 90 Euro, wenn sie sich selbst melden und ein Gesundheitszentrum aufsuchen. Im Tschad ist das viel Geld, das durchschnittliche Monatseinkommen liegt nur knapp darüber.

Jeden einzelnen Verdachtsfall tragen Leute wie Abgoudja akribisch in Listen ein, die in der Hauptstadt N’Djamena gesammelt werden. Doch weder in Bandama noch in N’Djamena, noch irgendwo sonst auf der Welt kann sich bislang jemand erklären, wie Hunde sich den Wurm einfangen. Wer sich umhört, hört von vielen denselben Satz: "Dogs don’t talk." Hunde sprechen nicht.

Und weil die Tiere auch in einigen Monaten noch schweigen werden, sitzt hundert Kilometer flussaufwärts der junge Wissenschaftler Metinou Sidouin an einem Holztisch und verbindet einen Peilsender mit seinem Laptop. Bis vor Kurzem hing der Sender noch um den Hals einer Hündin aus dem Dorf Maraboudoukouya. Auf dem Bildschirm öffnet sich ein Satellitenbild, übersät mit pinken und türkisen Linien. Es sieht aus wie das Gemälde eines Zweijährigen. Jeder einzelne Meter, den die Hündin im vergangenen Monat zurückgelegt hat, ist durch einen Strich dargestellt. Im Dorf ballen sich die Linien, doch zum Blau des in der Nähe vorbeiströmenden Flusses führt keine einzige von ihnen. "Die Hündin scheint nur im Dorf umhergestreunt zu sein", sagt Sidouin.

Bisher gibt es nur vage Ideen, woher die Hunde ihre Würmer haben könnten: von den Fischen, die ihre Besitzer ungekocht an sie verfüttern, lautet eine Theorie. Doch kein Forscher hat bisher Hinweise in untersuchtem Fischfleisch gefunden. Dennoch rät das Carter Center den Bewohnern, Fischabfälle nicht einfach wegzuschmeißen, sondern sie zu vergraben. Gebracht hat das bis jetzt nichts. 1040 Hunde haben sich 2018 im Tschad infiziert. Es war ein Rekordjahr.

Der Veterinärepidemiologe Metinou Sidouin gehört zu einem Team der University of Exeter in England. Mit Unterstützung des Carter Center verteilt er im Tschad die Hunde-Halsbänder mit dem Peilsender, Hunderte Tiere tragen sie. Die Daten schickt er nach Exeter, wo Kollegen sie auswerten. Die Forscher wollen wissen: Woher haben die Tiere ihre Würmer?

Wenn er in die Dörfer fährt, um Peilsender einzusammeln, spricht Sidouin mit den Besitzern über ihre Hunde. "Ich erkläre ihnen, dass sie den Tieren sauberes Wasser geben müssen. Dass sie auf sie aufpassen müssen", sagt er. Auch daran könnte es liegen, dass Hunde sich infizieren: Niemand kümmert sich um sie. Im Tschad sind Hunde Nutztiere, sie gehen mit auf die Jagd, bewachen das Haus und die Vorräte. Auch wie viele von ihnen es im Tschad gibt, kann niemand sagen. Manche schätzen, dass allein 60.000 an den Ufern des Schari-Flusses leben.

"Der Guinea-Wurm ist unvorhersehbar", sagt Sidouin. "Aber wir kriegen ihn. Egal wo er sich versteckt." Durch Ordnung, Systematik und vor allem Überwachung. Noch viel mehr als bei Polio (siehe Kasten) kommt es bei der Ausrottung des Guinea-Wurms auf diese drei Dinge an, denn die außerordentlich lange Inkubationszeit macht es schwer, zu rekonstruieren, wie der Parasit einmal in den Körper gelangt ist.

Dabei lief bei der Ausrottung des Wurms bisher alles nach Plan. Public-Health-Experten raten schon lange dazu, nicht nur Medikamente zu verteilen oder zu impfen, sondern die Krankheiten in ihrem Umfeld zu bekämpfen. Deshalb klärt die Guinea-Wurm-Kampagne die Menschen im Tschad darüber auf, welche Vorteile sauberes Wasser hat. So können sie auch andere Krankheiten vermeiden.

An einem späten Nachmittag sitzen im Dorf Bougone Massa Männer im Halbkreis auf dem Boden. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages dringen durch die hohen Papayapflanzen. Ein Kollege von Ousmane Abgoudja erklärt, was es zu beachten gilt. Man solle Trinkwasser durch einen Filter laufen lassen oder ein T-Shirt als Filter benutzen. Die Hunde anleinen, jeden Verdachtsfall melden.

Die Männer schauen ernst. "Ihr müsst eine Impfung gegen den Wurm finden!", sagt einer. "Die Jugendlichen sollen sich darum kümmern, die haben Zeit", sagt ein anderer. Ein Dritter lacht: "Wir sollen das Wasser aus unseren T-Shirts trinken?" Mario Romero, ein junger US-Amerikaner mit hochgekrempelten Ärmeln und Brille, hört den Männern zu. Er ist der stellvertretende Leiter des Carter Center im Tschad. "Danke für eure Einwände", sagt er. "Was wir euch mitgeben, sind nur Vorschläge. Es liegt an euch, ob ihr sie umsetzt. Wenn es Probleme gibt, sind wir da, um zu helfen." Die Männer nicken. Es sieht nicht aus, als seien sie besonders erpicht darauf, hier zu sein. Der Guinea-Wurm scheint ihnen keine großen Sorgen zu bereiten. Warum auch? Zwar gab es bei ihnen in der Vergangenheit vereinzelt Hunde, die sich den Parasiten eingefangen hatten. Doch ein Mensch war in ihrem Dorf noch nie betroffen.

Bis Anfang vergangenen Jahres arbeitete Romero für das Carter Center im Südsudan – das Land hat aktuell nur noch wenige Fälle, bei denen Menschen sich mit dem Guinea-Wurm infiziert haben. Romero weiß, dass man den Leuten mitunter Druck machen muss. Dass alle das Ziel fest im Blick haben müssen, weil sonst das Scheitern der Kampagne droht. "Wir sind auf die Mitarbeit der Bevölkerung angewiesen", sagt Romero.

Im Südsudan habe es einen Nomaden gegeben, der sich immer wieder mit dem Wurm infiziert habe, erzählt Romero: "Es war dem Patienten ziemlich egal. Er änderte nichts an seinem Verhalten." Der Mann habe große Strecken zu Fuß zurückgelegt. Jeden Tag schickte ihm das Carter Center ein Motorrad mit einem Mitarbeiter hinterher. Wie geht es dir?, fragt er ihn immer wieder. Aus welchen Wasserquellen trinkst du?

Gerade in der finalen Phase werfen alle Ausrottungskampagnen schwierige Fragen auf. Wo überschreiten die humanitären Helfer eine rote Linie? Dürfen sie die Persönlichkeitsrechte der Bewohner einschränken und sie zu ihrem Glück zwingen? Als im Jahr 1973 nur noch wenige Menschen die Pocken hatten, flogen Mitarbeiter der WHO mit Helikoptern in äthiopische Gebirgsdörfer, um die Bewohner zu impfen. Doch viele der Menschen wollten sich nicht impfen lassen. Die Helfer überredeten sie. Wo es nötig war, ließen sie zusätzlich äthiopische Offizielle einfliegen, die den Druck erhöhten.

"Die letzte Meile der Krankheitsbekämpfung ist immer die teuerste", sagt der Parasitologe David Molyneux. Jeder verhinderte Krankheitsfall kostet dann, relativ gesehen, weit mehr als zu Beginn eines Programms, wo viele Menschen infiziert sind. "Die Geldgeber werden ungeduldig, denn sie zahlen für ein Ziel: null Krankheitsfälle weltweit", sagt Molyneux, der Mitglied der WHO-Kommission für die Ausrottung von Dracunculus medinensis ist.

Einer der Hauptfinanziers des Guinea-Wurm-Eradikationsprogramms ist die Stiftung von Bill und Melinda Gates. Im August lud sie die WHO und das Carter Center zu einem Treffen ein, um zu erfahren, was im Tschad schiefläuft. Im Oktober schickte die Stiftung Mitarbeiter in den Tschad. Ob die Übertragung des Guinea-Wurms dort überhaupt irgendwann gestoppt werden könne? Molyneux ist skeptisch. "Wenn die Infektionen bei Hunden sich innerhalb der nächsten drei Jahre nicht im niedrigen zweistelligen Bereich einpegeln, kann ich mir nicht vorstellen, dass es klappt", sagt er.

Zurück in N’Djamena, hält Mario Romeros Jeep vor einem weißen Apartmentgebäude. Am Eingang sitzen zwei Sicherheitskräfte. Die Strukturen im Tschad würden gerade erst beginnen zu funktionieren, sagt Romero. Er ist optimistischer. Die Menschen lernten dazu, und die Mitarbeiter des Programms hätten ihre Augen überall. Romero erwartet, dass sich die Krankheitsfälle bei Hunden und Menschen bald deutlich vermindern lassen.

Permanente Überwachung – das ist für den NGO-Mitarbeiter Mario Romero, den Wissenschaftler Metinou Sidouin und den Dorfbeobachter Ousmane Abgoudja das wichtigste Instrument, um den Guinea-Wurm zu bekämpfen. Jede kleine Überwachungslücke kann zu neuen Infektionen bei Menschen und Tieren führen, den Wurm weiter wüten lassen.

Es war im April vergangenen Jahres, als ein achtjähriges Mädchen in einem Dorf der Provinz Cunene Schmerzen verspürte. Ihre Familie erzählte dem Nachbarn davon, einem Apotheker. Als der Mann sich das Mädchen anschaute, entdeckte er bei ihr eine Wunde, aus der ein Wurm herausschaute – es war der Guinea-Wurm.

Die Provinz Cunene liegt in Angola, der nächste bekannte Infektionsherd ist 1700 Kilometer entfernt. Niemals zuvor gab es in Angola eine Infektion mit dem Guinea-Wurm. Niemand weiß, woher das Mädchen ihn haben könnte.