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Trumps junger Schatten

Trumps junger Schatten

Der 26-jährige Charlie Kirk ist Trumps wichtigster Verbündeter im Kampf um die Millennials. Sie stellen im Herbst die größte Wählergruppe. Ein Porträt.

(Erschienen am 4. Juni 2020 bei Spiegel+. Zur Online-Version)

Im vergangenen Dezember folgte Donald Trump der Einladung eines Freundes. Er reiste nach Palm Beach, im US-Bundesstaat Florida, und sprach bei einer Jugendveranstaltung. Sein Freund und Gastgeber war ein 26-jähriger junger Mann, Charlie Kirk. Ein Video des Abends zeigt, wie Trump auf der Bühne steht – vor ihm Hunderte junge Menschen, viele recken ihre Handykameras in die Luft und tragen rote Kappen mit der Aufschrift "Make America Great Again". Über eine Stunde redet der Präsident, er spricht über die "radikale Linke" und über seine Zuhörer, "furchtlose junge Anführer und Kämpfer", die sich den Linken entgegenstellten. Kirk steht währenddessen mit Trumps Sohn Donald Jr neben der Bühne. Mehrmals spricht ihn der Präsident direkt an: "Ich möchte meinen Freund Charlie Kirk dazu beglückwünschen, Schüler und Studierende an mehr als 1500 Highschools und Colleges im ganzen Land mobilisiert zu haben", sagt Trump. "Unglaublich, was Charlie für eine Arbeit geleistet hat." Am Ende seiner Rede ruft Trump nicht "Gott segne die USA", wie er es oft macht, er wünscht dem Publikum auch keine gute Heimreise. Er sagt: "Danke, Charlie."

Charlie Kirk ist Gründer von Turning Point USA, einer konservativen, Trump-nahen Organisation für Studierende und Schüler. Er misst 1,95 Meter, spricht mit tiefer Stimme, hat buschige Augenbrauen und ist evangelikaler Christ. Kirk ist Trumps Verbindungsmann in die Millennial-Generation. Es ist nicht möglich, Kirk zu einem Gespräch zu überreden. Was es gibt, sind Puzzleteile: Schnipsel aus Lokalzeitungen, Tweets, YouTube-Videos. Führt man zudem Interviews mit Ex-Mitgliedern der Organisation und einer Wissenschaftlerin, ergibt sich das Bild eines jungen Mannes, der es mit denselben Methoden nach ganz oben geschafft hat wie der, dem er immer ähnlicher wurde: Donald Trump. Innerhalb weniger Jahre baute Kirk eine Organisation auf, die zu einer der wichtigsten Unterstützergruppen des Präsidenten wurde. Kirk sagt, es sei die größte und am schnellsten wachsende Jugendorganisation des Landes. Sein eigener Aufstieg geschah parallel, inzwischen zählt er zum inneren Zirkel des US-Präsidenten und seiner Familie. Kirks Karriere zeigt, wie rasch und mit welchen Mitteln ein junger, politisch unerfahrener Aktivist in der Trump-Ära bis ins Weiße Haus vordringen kann.

Sein Weg begann in einem Vorort von Chicago, Illinois, im Jahr 1993. Der Vater Architekt, die Mutter Gesundheitsberaterin, beide Republikaner, aber nicht besonders leidenschaftlich bei der Sache. Er habe früh die Werke des Ökonomen Milton Friedman gelesen und sich bei den Republikanern engagiert, erzählte Kirk einmal. In der zwölften Klasse gründete er mit Mitschülern die Gruppe SOS Liberty, die sich für einen freien Markt und limitierte Staatsausgaben einsetzte. Es war 2012, die Finanzkrise wirkte noch nach, als Charlie Kirk seinen ersten Auftritt bei Fox News hatte, Trumps Lieblingssender. Er sagte: "Es geht nicht um Demokraten gegen Republikaner, sondern um eine Generationenfrage. Schauen Sie sich die Schulden an, die unsere Generation erben wird, die hohen Zinsen und Steuern – wir finden, es ist Zeit, SOS nach Washington zu funken." Ein Video des Auftritts zeigt ihn zwischen einer Mitschülerin und einem Mitschüler, Kirk überragt sie im Sitzen, seine riesigen Hände untermauern seine Argumente, vorgetragen mit tiefer Stimme und ohne Haspeln. Es ist dieses souveräne Charisma, das Menschen an ihm bewundern und das im selben Jahr den Unternehmer Bill Montgomery zu ihm führte. Kirk hatte bei einer Veranstaltung der Tea Party gesprochen, als Montgomery zu ihm kam und ihm einen unüblichen Ratschlag gab: Kirk solle auf keinen Fall ans College gehen. Er solle stattdessen eine Organisation gründen, um mit seiner Nachricht noch mehr Menschen zu erreichen. Zusammen erschufen Kirk, damals 18, und Montgomery, 68, Turning Point USA. Die erste große Spende über 10.000 Dollar kam von dem evangelikalen Millionär Foster Friess. Der Vermögensverwalter finanzierte in der Vergangenheit wiederholt rechtskonservative und islamkritische Politiker, darunter den Ex-Präsidentschaftsbewerber Rick Santorum.

Konservative Jugendorganisationen gibt es in den USA schon lange, zu den bekanntesten gehören die Young America's Foundation oder das Youth Leadership Institute. Doch Turning Point sei extremer, schriller, sagt die Soziologin Amy Binder, die ein Buch über konservative Gruppen an US-Hochschulen veröffentlicht hat. Für eine demnächst erscheinende Studie hat sich Binder intensiv mit Kirks Gruppe auseinandergesetzt. Bei anderen Gruppen, zum Beispiel der Young America's Foundation, gehe es darum, Praktika zu vermitteln und Netzwerke zu bilden, die Studierende für ihre spätere Karriere nutzen können. "Bei Turning Point steht die Provokation im Vordergrund", sagt Binder. An der Kent State University demonstrierte Kirks Organisation gegen sogenannte Safe Spaces, Rückzugsorte für marginalisierte Gruppen. Einer von Kirks Anhängern trug eine Windel – um die Befürworter der Safe Spaces als Weicheier zu bezeichnen. "Es geht bei diesen Aktionen um Spaß, aber auch darum, eine Gegenreaktion der linken Studierenden zu provozieren", erzählt Binder am Telefon. "Danach kann man mit dem Finger auf die Linken zeigen und sagen: Schaut, das müssen wir die ganze Zeit aushalten." Zwar sei es so, dass die Fakultäten und ihre Studierenden im Durchschnitt eher links eingestellt seien, doch es gebe große Unterschiede zwischen einzelnen Unis. Obwohl konservative Jugendorganisationen traditionell mehr Spenden eintreiben als liberale Hochschulgruppen – laut einer Studie aus dem Jahr 2017 im Vergleich dreimal so viel – geben sie sich als Außenseiter und Opfer. Sie kritisieren, dass ihnen die Liberalen auf dem Campus den Mund verböten. Auf der Website von Turning Point können Interessierte kleine Aktivismus-Pakete bestellen, die hauptsächlich aus Stickern und Ansteckbuttons mit einfachen Slogans bestehen, darunter "Socialism Sucks".

Schon an der Highschool sah sich Kirk von Linken umzingelt, einige seiner Lehrer seien Marxisten gewesen, erzählte er später. Über sein persönliches Leben ist ansonsten wenig bekannt: Er war Kapitän seines Basketballteams, ist Träger der höchsten Pfadfinderauszeichnung und hat eine Freundin. Auf Instagram postet er ab und zu Fotos seiner Hündin Hazel. In Videos wirkt er wie ein netter, humorvoller Mensch, Kirk hat diese zurückgelehnte Entspanntheit eines Ex-Sportlers – sie unterscheidet ihn von vielen älteren konservativen Aktivisten. Aber Kirk kann auch anders: In Debatten, oft an Unis und vor Publikum, wird er häufig laut und sein Kopf rot. Man kauft ihm ab, dass ihm neben Erfolg auch seine Sache am Herzen liegt, die mit der Zeit immer besser in Fahrt kam. 2015 war Turning Point an mehr als 800 Universitäten und Highschools im ganzen Land aktiv. Im selben Jahr begann der Präsidentschaftswahlkampf. Und während die Initiative als gemeinnützige Organisation laut US-amerikanischem Recht nicht für einen Kandidaten werben darf, musste sich Kirk als einflussreiche konservative Stimme entscheiden: Wen würde er bei der Präsidentschaftswahl unterstützen? Zunächst sympathisierte er mit Ted Cruz. In einem Fernsehinterview kritisierte er Trump scharf: "Donald Trump ist nicht der einende Mensch, der er denkt zu sein. Wie will er die Partei zusammenbringen?", sagte Kirk. "Dieser Typ vernichtet sich vor unseren Augen selbst." Einige Monate später war klar, dass Trump für die Republikaner ins Rennen gehen würde. Bei einer Veranstaltung traf Kirk den Patenonkel der Kinder von Donald Jr, Trumps ältestem Sohn. In Dallas sagte der Mann zu Kirk, er könne ihn an Bord der Trump-Kampagne holen. Kirk sagte zu. Danach sei er für 70 Tage mit Donald Jr und dessen Bruder Eric Trump durch die USA gereist, sagte er in einem Interview: "Ich machte es zu meiner Lebensaufgabe." Kirk organisierte Veranstaltungen an Unis, erschuf ein Portal für junge Wähler auf der Website und wurde zu Trumps "millennial guy".

Kirk spielt diese Rolle bis heute. Der Präsident ist auf ihn angewiesen, denn die sogenannten Millennials, also etwa die Jahrgänge zwischen 1981 und 1996, stellen bei der Wahl im Herbst die generationsmäßig größte Wählergruppe. Eine deutliche Mehrheit von ihnen interessiert sich für den Klimawandel, findet ethnische Diversität nützlich für die Gesellschaft und hält den Staat für einen wichtigen Akteur, um Probleme zu lösen – und unterstützt dementsprechend die Demokraten. Dass es dennoch Trump-Unterstützer gibt, zeigt, dass sich auch Teile der jungen Generation das sogenannte alte Amerika zurückwünschen. Sie wenden sich gegen den angeblich aufziehenden Sozialismus, die vermeintliche Meinungsdiktatur der Linken und fehlenden Nationalstolz. Kirk bringt diesen Kulturkampf auf den Campus. Sein Aktivismus liefert Munition für jene, die sich offen zu Trump bekennen und Selbstsicherheit für die, die sich nicht trauen – immerhin wird das in dieser Altersgruppe auch als ein Akt der Rebellion verstanden. Nicht zuletzt verleiht Kirk der Regierung einen jungen Anstrich, so wie das die Kongressabgeordnete Alexandra Ocasio-Cortez bei den Demokraten tut. Für Kirk und seine Organisation ist es ein Segen, seit 2017 ist das Interesse der Medien explodiert. Eine Hand wäscht die andere.

Inzwischen nehmen Kirk manche seine Nähe zum Präsidenten jedoch übel. Zum Beispiel Raaghav Kanodia, der bis zum vergangenen Jahr die Turning-Point-Gruppe an der Universität von Santa Clara leitete, im Bundesstaat Kalifornien. Er hat Kirk mehrmals getroffen und beschreibt ihn als sympathischen, umgänglichen Menschen mit einem fotografischen Gedächtnis. Trotzdem sei Kanodia froh, nicht mehr dabei zu sein, erzählt er am Telefon. "In den vergangenen zwei Jahren ist in der Organisation ein Personenkult um den Präsidenten entstanden", sagt Kanodia. Er habe sich bei Turning Point engagiert, weil er für einen freien Markt sei, wie ihn die Organisation fordert. Kirk habe sich davon entfernt, weil er einen Präsidenten unterstütze, der statt eines freien Marktes Handelskriege anzettele.

Nicht nur an Kirk selbst gibt es Kritik: Medien veröffentlichten interne Chatnachrichten der Organisation, in denen sich Mitglieder rassistisch äußern (Kanodia, der aus Indien stammt, sagt, er habe solche Erfahrungen nicht gemacht). Die Young America's Foundation warnte 2018 in einem Memo Studierende vor Turning Point. Aus dem Memo geht hervor, dass die Organisation angeblich Zahlen über ihre Reichweite fälsche und unerlaubterweise Mitgliederlisten der Young America's Foundation verwendet habe. Auch die illegale Finanzierung von Hochschulwahlen wird Turning Point vorgeworfen.

Die Kritik hat Kirk und seiner Organisation nicht geschadet. Im Jahr 2017/2018 bekam die Organisation knapp elf Millionen Dollar Spenden, der Betrag hat sich innerhalb von drei Jahren mehr als verdoppelt. Die Zahl der Universitäten und Schulen, an denen Turning Point aktiv ist, hat sich laut der Organisation auf rund 2000 vergrößert. Wie groß die Organisation wirklich ist, lässt sich nicht überprüfen – jedoch bestehen die Gruppen vielerorts nur aus einer Handvoll Mitglieder. Ihrem Anführer Kirk folgen knapp 800.000 Menschen bei Instagram, 1,7 Millionen sind es bei Twitter. Mittlerweile ist er auch Vorsitzender der Organisation Students for Trump und Autor eines Buches über den Präsidenten, zu dem er im Februar dieses Jahres bei Twitter schrieb: "Es ist eine große Ehre, einen Sitz in der ersten Reihe gehabt zu haben, während dieser Präsident in den vergangenen drei Jahren Geschichte geschrieben hat."

Wie es aussieht, ist die Wette des Charlie Kirk aufgegangen. Der Junge aus dem Vorort von Chicago hat auf Trump gesetzt und gewonnen. Doch es ist ein Sieg mit Verfallsdatum. Raaghav Kanodia, das ehemalige Mitglied aus Santa Clara, sagt, er habe manchmal eine Frage im Kopf: Was wird aus Kirk und Turning Point, wenn Trump die kommende Wahl verliert?

Foto: Charles Deluvio / Unsplash