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Missliche Lage

Missliche Lage

Eine Langeooger Familie verklagt die EU, weil die nicht genug gegen den Klimawandel tue. Wie groß ist die Gefahr für die Insel? Ein Besuch

(Erschienen in: Die Zeit, Ressort Wissen, Ausgabe 36/2018. Zur Online-Version)

Als der Mann mit dem Fernglas über die sandigen Holzlatten geht, brennt ihm die Sonne auf das lange graue Haar. Links und rechts erhebt sich die Düne, obenauf raschelt der Strandhafer. Unterhalb sieht der Mann das Meer, hört die Brandung, jeder Meter eröffnet den Blick auf mehr bunte Strandkörbe. Dann stoppt er abrupt. Dort, wo er jetzt steht, wo der Weg hinunterführt zum Strand, klaffte am zweiten Weihnachtsfeiertag 2016 ein Abgrund von acht Meter Tiefe.

Jochen Runar ist der Ranger in Langeoogs Nationalpark. Als er damals am frühen Morgen an den Strand kam, hatte eine Sturmflut gewütet. Stundenlang hatten hohe Wellen von Nordwesten her an Langeoogs Strand geschlagen und allein an dieser Stelle 15 Meter Dünenfront weggerissen. Der Holzweg hinunter zum Strand war weg, stattdessen: nichts. Einen neuen Weg haben sie gebaut, aber aus der abgebrochenen Düne ragen immer noch die Wurzeln des Strandhafers, die mal im Sand steckten.

"Hier, wie ein Mobile!", sagt Runar, als er vor der Abbruchkante steht, das Meer und die Strandkörbe im Rücken. Zu den Seiten schwingen die Wurzeln des Strandhafers im Wind, viele Verästelungen, sie wachsen tief in die Düne hinein und geben ihr so Halt. Die Wildgräser wurden nachträglich gepflanzt, denn die Düne soll die Insel vor Sturmfluten schützen. Und die kämen immer früher als sonst, immer stärker, sagt Runar. Das hätten auch andere Inselbewohner ihm bestätigt. Nicht alle extremen Wetterereignisse lassen sich auf ihn zurückführen, und nicht jede Erinnerung der Insulaner lässt sich auch wissenschaftlich belegen. Doch die Langeooger spüren den Klimawandel.

Im Juli schickten zehn Familien aus verschiedenen Regionen der Erde eine Klage gegen die Europäische Union an das Gericht der EU, unter ihnen eine Familie aus Langeoog. Was sie gemeinsam haben, ist, dass sie nicht übermäßig viel Treibhausgase ausstoßen – aber übermäßig betroffen sind von deren Auswirkungen in der Atmosphäre.

Sie haben Angst um ihre Lebensgrundlagen. Berechtigte Angst. Sie fürchten, dass ihre Trinkwasserquellen versiegen. Sie bangen um ihr Vieh. Sie sorgen sich um den Verlust ihrer Kultur und ihrer Heimat. Der Klimawandel ist so etwas wie die ultimative Globalisierung. Er trifft Menschen jenseits aller Mauern und Grenzen, stößt in aller Welt auf Orte, die besonders verwundbar sind. Wie an der deutschen Nordseeküste. Dass Langeoog morgen im Meer versinkt, heißt das nicht. Dass die Insel die globale Veränderung stärker zu spüren bekommt, schon.

"Als ich 2015 Ranger geworden bin, ist für mich ein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen", sagt Jochen Runar. Ein kleiner Junge mit nasser Badehose zappelt an ihm vorbei. Seit Runar 14 Jahre alt ist, beobachtet er Vögel. Auf Langeoog sorgt er sich besonders um Strandbrüter wie den Sandregenpfeifer. Der Vogel, der wie eine gestauchte Form der Lachmöwe aussieht, legt im Sommer seine Eier in den Sand zwischen die Muscheln und brütet sie dort aus. Auch die Zwerg- und Küstenseeschwalben machen das so. Nirgendwo in Deutschland kommen die Vögel vor außer auf den Nordseeinseln.

"Wenn der Meeresspiegel steigt, werden die Eier der Vögel aufs Meer getrieben", sagt Runar. Er streckt seinen Arm und zeigt den Strand entlang, nach Baltrum und Norderney im Westen, nach Spiekeroog im Osten. "Auf unseren Nachbarinseln ist das im vergangenen Sommer schon geschehen." Deshalb gebe es in diesem Sommer viel mehr Strandbrüter als sonst auf Langeoog, sagt Runar, die Vögel wichen aus. Bis auch auf Langeoog das Wasser kommt. "Dann ziehen sie fort."

Dass das Wasser steigt, ist ziemlich sicher. Viele glauben aber inzwischen, dass das schneller gehen wird als bisher gedacht.

Es ist eine Veränderung über Jahrzehnte, in Millimetern pro Jahr getarnt, sich träge vollziehend und schwer abzubremsen: Im Jahr 2014 erklärten die Autoren des aktuellen Weltklimaberichts, es sei "sehr wahrscheinlich", dass die Rate des globalen Meeresspiegelanstiegs im 21. Jahrhundert jene in den vergangenen Jahrzehnten gemessene übersteige. Und abhängig von den weiteren Emissionen könnten die Pegel im globalen Durchschnitt bis zum Jahr 2100 zwischen 25 Zentimeter und einem Meter ansteigen. Damit erhöhten die Klimaforscher ihre Prognose im Vergleich zum vorherigen Bericht. Aber auch diese Vorhersage gilt inzwischen als zu konservativ.

Im Februar dieses Jahres schrieb Robert Steven Nerem von der University of Boulder in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), dass der Anstieg des globalen Mittelwerts sich innerhalb der relativ kurzen Satellitenmessungs-Ära merklich beschleunigt habe, also seit 1993. Das passt zur Vorhersage von Xianyao Chen, der im Juli 2017 mit einem australisch-chinesischen Forscherteam in Nature Climate Change schrieb, man erwarte, dass der Meeresspiegelanstieg "sich im Lauf des Jahrhunderts weiter beschleunigt".

Im Vierten Nationalen Klima-Assessment, einer Art amerikanischem Weltklimabericht, erklärten US-Forscher von Nasa, NOAA und der National Science Foundation im vergangenen Jahr: "Neue Erkenntnisse bezüglich der Stabilität der Eisschilde legen nahe, dass bei hohen Emissionen ein Anstieg des globalen Meeresspiegels von 2,4 Metern bis 2100 nicht ausgeschlossen werden kann."

Doch nicht nur das Wasser steigt.

Seit der letzten Eiszeit neigt sich die tektonische Platte, auf der Europa liegt. Als damals die riesigen, schweren Eismassen abschmolzen, wurde der Norden plötzlich leichter. Skandinavien steigt aus dem Meer, Mitteleuropa sinkt. Nicht gravierend, aber es sinkt. Und mit ihm Langeoog.

Sollte die Nordsee eines Tages über die Dünen schwappen, haben sie auf der Insel ein Problem. Denn schräg hinter dem sandigen Schutzwall liegt das Pirolatal. Wer mit dem Fahrrad durch das Pirolatal fährt, ist sanft eingeschlossen von geschwungenen Hügeln, kommt vorbei an Kartoffelrosen, Sandsegge und Krähenbeere. Alle paar Meter ragt ein hüfthohes Rohr aus dem Boden, daneben ein kleiner grauer Kessel mit gewölbtem Aufsatz. 17 von ihnen gibt es, Brunnen. Von hier beziehen die Langeooger ihr Trinkwasser. Im Sand, 5 bis 22 Meter tief unter den Brunnen: eine sogenannte Süßwasserlinse. Im feuchten Untergrund bildet das leichtere Süßwasser einen eigenen Bereich, umgeben von sandigem Salzwasser (siehe Grafik). Nur von Regenwasser nährt sich dieses natürliche Reservoir.

Die Langeooger trinken aus einer Süßwasserlinse. Wie lange noch?

Verlagern sich die Regengüsse in Zukunft hauptsächlich in den Winter, werden die Sommer immer heißer und trockener, dann bekommt die Süßwasserlinse während der Saison weniger Nachschub. Weil die Touristen in dieser Zeit trotzdem viel Wasser verbrauchen, schrumpft die Linse. Wird die Linse zu klein, kann sie beschädigt werden, dann können Salz- und Süßwasser sich vermischen.

"Auf lange Sicht wird das ein Problem für die gesamte Küstenregion", sagt Beate Ratter. Die Geografin erforscht an der Universität Hamburg die sozioökonomischen Folgen des Klimawandels an Nord- und Ostsee, oder anders gesagt: den neuen Alltag der Küstenbewohner in einem sich verändernden Klima. In Ratters Büro hängt ein Foto von der Insel Helgoland, ein Geschenk des Bürgermeisters. Aus dem Fenster im siebten Stock des Uni-Hochhauses sieht sie die Containerbrücken im Hafen, hinter denen das Alte Land beginnt, jenes fruchtbare Obstanbaugebiet am Westufer Richtung Elbmündung.

"Die Bauern befürchten, dass mit der nächsten Elbvertiefung ihr Grundwasser versalzt und sie es nicht mehr zum Bewässern der Obstbäume nutzen können", sagt sie und zeigt nach Nordwesten. "Wenn es zu einer Verwirbelung mit dem Salz kommt, ist das Süßwasser für 150 Jahre unbrauchbar."

Etwas Ähnliches befürchten auch die Langeooger in ihrem Pirolatal, wo zusätzlich winterliche Sturmfluten über die Dünen schwappen könnten und so Salzwasser von oben einzusickern droht. Wären die 17 Brunnen dort einmal versalzen, gäbe es keine Alternative. Genauso wenig wie auf den meisten anderen Inseln. Baltrum und Wangerooge sind die einzigen Ostfriesischen Inseln, zu denen Wasserleitungen vom Festland führen.

Ein paar Schritte entfernt vom Pirolatal liegt auf einer kleinen Anhöhe das Bio-Restaurant Seekrug von Michael Recktenwald. Der Koch sitzt an einem Augustmorgen auf der Terrasse, der Wind pfeift über die Glasbalustrade, durch die er auf den Strand und das Meer blickt. Recktenwald trägt Schürze und Arbeitshemd, gerade ist Hochsaison. Es ist eine gute Woche, auch weil die Klage, an der Recktenwald zusammen mit seiner Frau Maike und ihrem Sohn beteiligt ist, vor drei Tagen die erste Hürde geschafft hat. Jetzt haben der Rat und das Parlament der EU zwei Monate lang Zeit, sich dazu zu äußern. Danach entscheidet das Gericht, ob ein Verfahren eröffnet wird.

Bis zum vergangenen Frühjahr wusste Michael Recktenwald gar nicht, dass man die EU verklagen kann. "Ich bin Koch und kein Rechtsanwalt", sagt er und zieht die Augenbrauen hoch. Dann bekamen die Recktenwalds einen Anruf: ob sie sich nicht an einer Sammelklage gegen die EU beteiligen möchten. Juristen und Umweltaktivisten suchten auf der ganzen Welt nach Familien, zehn fanden sie, acht davon aus Europa, eine aus Kenia und eine von den Fidschi-Inseln. Die Recktenwalds waren dabei.

Jetzt werden sie unter anderem von der Hamburger Rechtsanwältin Roda Verheyen vertreten. Die Umweltschützer-Gesellschaft Protect the Planet übernimmt die Kosten. Die Kläger berufen sich auf die EU-Grundrechtecharta: Dort steht, dass jeder Mensch, nicht nur jeder EU-Bürger, das Recht hat, zu arbeiten und einen frei gewählten Beruf auszuüben. Die Charta ist universell, auf ihrer Grundlage kann auch eine Familie aus Kenia vor einem europäischen Gericht klagen. Die Kläger argumentieren, dass die EU-Emissionen, die 2016 knapp zehn Prozent der weltweiten Emissionen ausmachten, zum Klimawandel beitragen und der zukünftig ebenjenes Grundrecht auf freie Berufswahl gefährdet – unter anderem.

Die Gefahr hat viele Gesichter. Bei den Recktenwalds, den Bio-Gastronomen, ist es (neben Stürmen, Wellen und Süßwassersorgen) die Graugans, die den Rindern das Gras wegfrisst. Früher stoppten die Tiere nur kurz auf Langeoog bei ihrer Durchreise gen Süden. Heute bleiben sie den ganzen Winter. Er ist ihnen warm genug.

Bei der kenianischen Hirten-Familie Guyo ist es die Dürre, die ihre durstigen Tiere bedroht.

Und bei der rumänischen Bergbauern-Familie Vlad ist es die extreme Hitze, die das Gras ihrer Ziegen verdorren lässt. Jedes Jahr führen sie sie weiter den Berg hinauf. Irgendwann werden sie am Gipfel sein.

Die Kläger fordern, dass die EU ihr Klimaziel für 2030 verschärft. Statt die Emissionen, basierend auf den Werten von 1990, um 40 Prozent zu senken, solle die EU sich 50 bis 60 Prozent als Ziel setzen. Dass normale Bürger sich so organisieren, ist etwas Neues. Außerhalb der USA hat es bis zum Jahr 2015 solche Verfahren nicht gegeben. "Das ist eine Entwicklung der vergangenen drei, vier Jahre", sagt Roda Verheyen.

2015 klagten in den Niederlanden 900 Bürger zusammen mit einer Umweltorganisation gegen das Königreich und waren erfolgreich: Es musste seine Klimaziele verschärfen. In Pakistan verklagte der Bauer Ashgar Leghari 2015 den Staat, weil der seine Klimapolitik nicht umsetze. Das Gericht gab ihm recht und verpflichtete den Staat, Kontrollmechanismen zu schaffen, die seinen Klimafortschritt überwachen. Und in Österreich verhinderte ein Gericht im Jahr 2017, dass eine dritte Landebahn am größten Wiener Flughafen gebaut wird. Sie führe dazu, dass die im Klimaschutzgesetz von 2011 festgelegten CO₂-Reduktionsziele verfehlt würden. Mittlerweile wird sie zwar trotzdem gebaut – aber die Beispiele zeigen, dass zivile Klimaklagen Erfolg haben können. Darauf hofft auch Michael Recktenwald.

Was ihn mit seinen Mitklägern verbindet, die auf dem ganzen Globus verstreut sind? "Wir wollen zeigen, dass der Klimawandel uns alle betrifft", sagt Recktenwald.

Direkt vor seiner Haustür wird gerade Sand aufgeschüttet, um den Strand zu reparieren, Küstenschutz. 2017 hat der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz 600.000 Kubikmeter Sand ausgebreitet. Weil die Arbeiter nicht fertig wurden, stehen gerade wieder Bagger und Raupen am Langeooger Strand. "Es gibt keinen Nachweis dafür, dass das Sturmaufkommen an der deutschen Küste in den vergangenen 150 Jahren an Intensität und Häufigkeit zugenommen hat", sagt Beate Ratter, die Geografin von der Uni Hamburg. Durch den Meeresspiegelanstieg würden die Küste und die Inseln aber "stärker malträtiert". Die Folge lässt sich gerade auf Langeoog beobachten: "Die Schutzmaßnahmen sind immer häufiger nötig."

Wer von Langeoog abreist, kehrt den Dünen im Norden den Rücken und geht gen Süden, an Uwe Garrels Büro vorbei. Es liegt an der Straße, die aus der Ortsmitte hinführt zum Bahnhof, der Gäste und Insulaner zum Anleger am Südende der Insel bringt, um überzusetzen. Garrels ist Langeoogs Bürgermeister, parteilos. An einem Nachmittag im August sitzt er in seinem Büro hinter den sichtschützenden Lamellen, seine Assistentin bringt Ostfriesentee. "Wissen Sie, wie man den einschüttet?", fragt Garrels. Zuerst der Kandis, dann der heiße Tee, der den Zucker zum Krackeln bringt, dann die Sahne, die im Glas Wolken schlägt.

Gerade hat Garrels bei einem Treffen mit den Bürgermeistern der übrigen Inseln Ostfrieslands und Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies vorgeschlagen, dass die Inseln und das Bundesland sich öfter austauschen. "Wir müssen die Inseln viel stärker in den Fokus rücken", sagt er. "So eine Insel ist ein Ort, an dem sich viele Leute treffen. Hier können wir symbolisch zeigen, was sich ändern muss."

Garrels war ein Vierteljahrhundert lang Wattführer. Die Klage der Recktenwalds findet er gut, sie hat die Insel und ihre Verletzlichkeit bekannter gemacht. Aber die Debatte greift dem Bürgermeister zu kurz. "Nicht nur die Emissionen müssen runter, auch der Energieverbrauch an sich."

"Es war mal so, dass auf Langeoog die Welt zu Ende war", sagt Garrels, "romantisch und touristisch spannend." Das ist vorbei. Jetzt liegt sie mitten in einer sich wandelnden Welt. Zum Ringen darum, den Wandel abzumildern, gehört der Streit um die Mittel. Und die gefallen nicht allen, auch Uwe Garrels nicht: "Abends geht bei uns die Sonne in Windkraftanlagen unter."