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Es begann mit dem Kirchenchor

Es begann mit dem Kirchenchor

In Hohenberg an der Eger steht alles still - seit einer verhängnisvollen Chorprobe. Die Corona-Krise zeigt die guten Seiten einer kleinen Gemeinschaft, aber auch die schlechten. Eine Reportage

(Erschienen am 21. April 2020 bei Spiegel+. Zur Online-Version)

Als niemand etwas ahnte, sang der Hohenberger Kirchenchor "Dank für Golgatha", eine Kantate, die an das Leiden und Sterben Jesu erinnert. 

Dort am Kreuz hört man den Aufschrei, der die Dunkelheit zerreißt.

Denn um unsertwillen leidet, den der Glaube lobt und preist. 

Es war ein Dienstag, der Chor probte im weiß gestrichenen Gemeindehaus für die Osterkonzerte in der Kirche nebenan, 17 Frauen und ein Mann. Der Tenor Hubert Dorschner, 63 Jahre alt, Industriekaufmann, singt seit dem Kindesalter. Dorschner ist ein zufriedener Mann mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck und Brille. Am Musizieren gefalle ihm vor allem die Gemeinschaft, sagt er, als er später von diesem 10. März erzählt.

Vier Tage nach der Probe wurde bei Dorschner Covid-19 diagnostiziert. Er war der erste Erkrankte der Stadt. Weitere Chormitglieder wurden positiv getestet. Es wird vermutet, dass diese Chorprobe, bei der alle aus vollstem Herzen sangen, dazu beitrug, das Virus zu verbreiten. Neun Tage nach der Probe, am 19. März, verhängte die Stadt eine Ausgangssperre, als zweiter Ort in Deutschland.

Ein Chor ist nicht nur eine Ansammlung von Singenden, er erschafft etwas, auf das die rund 1400 Menschen in Hohenberg an der Eger, an der tschechischen Grenze, sehr stolz sind: Gemeinschaft. Doch was geschieht mit einer Gemeinschaft, die krank wird?

Der Indexpatient

An einem sonnigen Mittag Ende März sitzt Dorschner auf einer Bank vor der Hohenberger Burg. Der Brunnen auf dem Burgplatz ist mit Ostereiern verziert. Ein Mann werkelt am Auspuff seines Audi, eine Frau schiebt ihren Kinderwagen und sieht Dorschner. "Servus!", ruft sie. "Servus!", ruft auch Dorschner. Er hat die Krankheit überstanden. Vier Tage litt er unter starkem Fieber und verspürte kaum Appetit, danach ging es wieder bergauf. 21 Tage sei er insgesamt zu Hause geblieben. "Zur Sicherheit", sagt Dorschner.

Es ist der 14. Tag der Ausgangsbeschränkungen in Hohenberg, mittlerweile gelten sie in ganz Bayern, das bedeutet: Die Hohenberger dürfen mit dem Hund Gassi gehen, joggen und zum Bäcker, aber nicht die Nachbarin besuchen oder zum Friseur. Wenn man durch den Ort geht, wirkt er verlassen, hier und da raucht ein Auspuff in der kalten Aprilluft, ab und zu sieht man ein Pärchen beim Spaziergang. Die Hohenberger scheinen sich an die Regeln zu halten, das bestätigen die meisten im Ort.

Die Osterkonzerte des Kirchenchors wurden natürlich abgesagt.

Nach der Chorprobe am 10. März, erzählt Dorschner, sei er nach Hause gegangen. Am Tag darauf, Mittwoch, fuhr er ins benachbarte Marktredwitz und besuchte einen ehemaligen Stammtischkollegen, der kürzlich einen Schlaganfall erlitten hatte. Am Donnerstag holte er Unterlagen aus Pechbrunn, die er für seine ehrenamtliche Tätigkeit bei der Tafel benötigte.

Am Freitag saß Dorschner mit rund 30 weiteren Menschen im Hohenberger Fußballvereinsheim "Haidhölzl", dessen Bau er als 1. Vorsitzender im Jahre 1976 initiiert hatte. Wie jeden zweiten Freitag trank Dorschner Weißbier vom Fass und aß Rinderzwerchfell, genannt Kronfleisch, eine Hohenberger Spezialität.

Zu Hause sei es ihm schlecht gegangen, sein Körper sei kalt geworden und der Kopf heiß, wie bei einer Grippe. Auf dem Fieberthermometer habe 38,5 gestanden, erzählt er. Er rief den Bereitschaftsdienst, um halb zwölf nahm ein Arzt zwei Abstriche, das Fieber war da schon auf 39,5 gestiegen. Wo er sich angesteckt haben könnte, weiß Dorschner nicht. Sonntagmorgen schickte er eine Nachricht an Jürgen Hoffmann.

Der Bürgermeister

In Bayern fanden am 15. März Kommunalwahlen statt. Jürgen Hoffmann (SPD), Erster Bürgermeister Hohenbergs, stellte sich wieder zur Wahl. Am Morgen jenes Tages erreichte ihn um 7.10 Uhr eine WhatsApp- Nachricht: "Musste freitagnachts noch den Bereitschaftsdienst holen, da ich sehr hohes Fieber bekommen habe. Habe einen Abstrich wegen Corona gemacht", schrieb Hubert Dorschner in eine gemeinsame Chat-Gruppe. Bis dahin war in Hohenberg kein Fall von Covid-19 bekannt gewesen, das wusste Hoffmann. Dorschner schrieb weiter: "Gestern Abend ist das Ergebnis gekommen. Positiv. Weiß jetzt nicht, wie es weitergeht, weil ich mit vielen Leuten zusammenkam."

So ein Wahltag, sagt Jürgen Hoffmann, als er am 30. März im Feuerwehrhaus neben einem riesigen Löschfahrzeug sitzt, vergehe eigentlich quälend langsam. An jenem sei das anders gewesen, er habe viel zu tun gehabt, an die Wahl sei nicht zu denken gewesen. Permanent habe er telefoniert, mit dem Gesundheitsamt, dem Landratsamt und seinen Bürgern – wer hatte Kontakt mit Hubert? Betroffene und vielleicht Betroffene trug er in eine Liste ein. Viele in Hohenberg haben Hoffmanns Handynummer und riefen ihn von selbst an, das zahlte sich nun aus. Viele nennen ihn "den Jürgen".

Hoffmann, 50 Jahre alt, geboren in Hohenberg, war mal Dritter bei den bayerischen Meisterschaften im Geräteturnen, lernte Betriebsschlosser, arbeitete im Hohenberger Bauhof und wurde 2011 Bürgermeister. Er sagt: "Ich setze mich seit 50 Jahren für Hohenberg ein." Um 18 Uhr am Sonntag kam das vorläufige Wahlergebnis: Rund 62 Prozent, sichere Wiederwahl. Für Freude sei leider keine Zeit gewesen, sagt Hoffmann.

Auch Montag und Dienstag habe er von morgens um halb sieben bis in die Nacht telefoniert.

In der Zwischenzeit stiegen die Infektionszahlen im 20 Autominuten entfernten Mitterteich rasant. Ab Mittwoch herrschte dort eine Ausgangssperre, die erste Deutschlands. Am Dienstagabend um halb elf rief Hoffmann den Kommandanten der Feuerwehr an und sagte ihm, er solle morgen früh rausfahren, die Hohenberger warnen.

Es gibt ein Handyvideo, aufgenommen am Mittwochmorgen. Es zeigt den Hohenberger Feuerwehrbus, der im Schritttempo durch eine neblige Straße rollt. Blaulicht blinkt. Nach der Sirene spricht jemand durch den Lautsprecher: "Achtung, Achtung. Aufgrund mehrerer positiver Fälle von Corona in Hohenberg empfiehlt die Stadt, soziale Kontakte zu vermeiden. Der älteren Generation und vorerkrankten Personen wird empfohlen, zu Hause zu bleiben. Dies ist alles zu ihrer eigenen Sicherheit."

Parallel beantragte Hoffmann beim Landkreis Wunsiedel eine Ausgangssperre für Hohenberg, die am 19. März verhängt wurde. Eine Bayern-weite Regelung ("Ausgangsbeschränkung") folgte einen Tag darauf. Sein schnelles Handeln hat sich wohl ausgezahlt. Das Landratsamt gibt zwar keine Zahlen für einzelne Ortschaften heraus, teilt aber mit, dass es Mitte März eine auffällige Häufung von Infektionen in Hohenberg gegeben habe. Etwa eine Woche nach Verhängen der Ausgangssperre habe sich die Infektionsrate in Hohenberg dann der des übrigen Landkreises angepasst. Bisher sei in Hohenberg niemand an Covid-19 gestorben, sagt Hoffmann.

Was er auch sagt: Manche hätten ihm am Telefon vorgeworfen, Panik zu verbreiten. Anderes erfuhr er über Umwege.

Das Getuschel

Hoffmann, ein zugewandter Mann mit Oberlippenflaum, der nicht wie ein Sprücheklopfer wirkt, erzählt, in anderen Ortschaften habe es geheißen, er wolle sich profilieren.

Der Wirt Thomas Geiger aus dem "Gasthof zur Burg" berichtet, manche hätten vermutet, das Virus habe sich bei ihm ausgebreitet.

Auch Hubert Dorschner berichtet von Getuschel, in einem kleinen Ort wie Hohenberg könne man das nicht vermeiden. Was verständlich sei, findet Dorschner, Getuschel bedeute Abwechslung. Als er noch im Stadtrat saß, habe er mal ausprobiert, wohin das führe. Er habe gesagt, er ziehe weg, wegen des Jobs. "Eine Woche später höre ich, ich hätte ein Sägewerk geerbt." Dieses Mal sei erzählt worden, der Kirchenchor habe das Virus nach Hohenberg gebracht. Er habe sich Vorwürfe gemacht, sich beschissen gefühlt, sagt er. "Weil ich dachte: Bist du schuld?"

Direkt habe den Kirchenchor niemand beschuldigt, sagt Dorschner, er habe davon über mehrere Ecken gehört. Es sei ja ohnehin nichts dran: "Damals konnte man das noch nicht steuern. Du lebst dein Leben ganz normal weiter, und irgendwann triffst du wen, der infiziert ist." Schuld, sagt Dorschner, gibt es bei einem Thema wie Corona nicht.

Die Grenze

Martin Vondrácek betreibt seine allgemeinärztliche Praxis in der ehemaligen Hohenberger Grundschule seit 2010. Mit seiner Familie wohnt er im tschechischen Eger, der gleichnamige Fluss verbindet die beiden Kommunen. Morgens überquert er die Grenze auf dem Weg zur Arbeit, abends geht es wieder zurück, selbst in der Mittagspause fahre er manchmal mit dem Fahrrad nach Hause, erzählt er.

Als er von der Grenzschließung hörte, habe Vondrácek gedacht, er müsse seine Praxis vorübergehend zumachen. Aus Deutschland einreisende Tschechen müssen sich nach Grenzübertritt in eine 14-tägige Zwangsquarantäne begeben. Ärzte sind von der Regelung nun ausgenommen – dafür, sagt er, dürfe er sich als Pendler zu Hause nur drinnen aufhalten und dürfe nicht in den Wald, zu Behörden oder zum Einkaufen, was grundsätzlich erlaubt sei. Bei der Grenzüberfahrt mit dem Fahrrad werde ihm ein Fiebermessgerät an den Kopf gehalten. "Weil ich Pendler bin, stelle ich für die tschechische Regierung ein Risiko dar." Er halte die Grenzschließung für Schwachsinn, nicht nur aus medizinischer Sicht.

Eine Pandemie unterteilt die Menschen sofort, sie erschafft ein Gegeneinander: die Gesunden und die Kranken – und manchmal auch die, die dazugehören, und die Fremden.

Edeka Kaiser

“Für morgen, Frau Kellnhofer?”

“Freilich gibt’s morgen Bratwurst.”

“Hähnchenflügel.”

“Ja, frische.”

“Ja.”

“Ja.”

“Ja, haben wir.”

“Mh.”

“Pizza haben wir Schinken-Champignon.”

“Bloß Champignon? Nee, nur mit Schinken.”

“Jawoll.”

“Ja.”

“Dreilagig oder vierlagig?”

“Ja.”

Susanne Geiger, geborene Kaiser, steht hinter der Fleischtheke ihres Edeka-Markts, das Telefon am Ohr, und macht sich Notizen. Ihr Mundschutz hängt an einer Kordel um ihren Nacken, sie trägt Schürze. Bestellungen kommen inzwischen per Fax, Telefon oder WhatsApp meist von den älteren Bürgern Hohenbergs. Ihre Tochter Edda und deren Freund Eric liefern die Einkäufe bis vor die Haustür, das Geld wechselt die Besitzer im Kuvert, Kaufbetrag gegen Rückgeld, ohne Körperkontakt. Die Infizierten lassen anschreiben oder legen das Geld vorher unter die Fußmatte. Später nehmen sie sich von dort das Wechselgeld. Ein neues Bezahlritual. Man kann im Edeka in Hohenberg erleben, dass Beschränkungen Menschen kreativ werden lassen.

Das Kaufverhalten der Hohenberger habe sich seit Beginn der Krise geändert, sagt Geiger. Es werde mehr eingekauft, oft auch für Nachbarn, man helfe sich. Man könnte das, was sie beschreibt, Entschleunigung nennen. Geiger sagt: "Sonst kommen sie reingerannt, nehmen eine Cola und ein Schnitzelsemmel und rennen raus."

Der Wirt

Im Innenraum, wo sein Zapfhahn steht: duster, dunkles Holz, Wirtshaus-Charme. Im angebauten Wintergarten nebenan sitzt der Wirt Ende März auf einem Flechtstuhl, Sonne flutet den Raum. Der "Gasthof zur Burg" gehört Thomas Geiger, nicht verwandt mit der Edeka-Besitzerin Susanne Geiger. Geiger blickt hoch zu einem Storch, der gerade in seinem Nest auf dem ehemaligen Gefängnisturm der Burg gelandet ist. Normalerweise komme in zwei Wochen das Weibchen nach, sagt Geiger. Aber was ist schon normal?

Eigentlich war viel geplant in diesem Frühling: die Einweihung des neuen Feuerwehrfahrzeugs. Die Jahreshauptversammlung des Obst- und Gartenbauvereins e.V. aus dem Jahr 1878 und das Frühjahrsschießen der Schützengesellschaft. Die wöchentlichen Stammtische sowieso, das Kronfleisch-Essen jeden Freitag, das Besenbrennen Ende April.

Dann kam Corona und hielt das Leben an.

Auch bei Geiger wäre viel los gewesen, sein Gasthof ist das Herz des Ortes. Die meisten Stammtische treffen sich bei ihm. Der Seniorenstammtisch, von dessen Gründungsmitgliedern nur noch Geigers Großvater übrig ist. Der Zollstammtisch der ehemaligen Zollbeamten. Der Ritterstammtisch derer, die das Ritterfest organisieren. Der Damenstammtisch, der Stammtisch der Hohenberger Sternwarte. Der AVG-Stammtisch, kurz für Alkoholvernichtungsgesellschaft. Geiger, der 37 Jahre alt ist, hätte Bischofshof vom Fass gezapft und wäre gewesen, was er ist: Wirt.

Als Wirt müsse man neutral bleiben, sagt Geiger, man müsse versuchen, die Leute die Dinge auch von einer anderen Seite sehen zu lassen. Er höre vieles, über das er sich Gedanken mache. Aber ein Wirt müsse im richtigen Moment den Mund halten können, sagt Geiger: "So kann man viele, viele Fäden ziehen." Es klingt, als wäre er eine Mischung aus Priester und Politiker.

Geiger liebt Hohenberg, er sei mal ein paar Wochen in Brasilien gereist, zurückgekommen und habe gedacht: Hier hast du alles. Er kenne seine Hohenberger sehr gut. Das Virus werde sie nur noch mehr zusammenbringen, sagt der Wirt in seinem leeren Gasthaus, als dürfe es gar nicht anders sein.

Das Storchenweibchen ist, Stand 16. April, noch nicht in Hohenberg gelandet.