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Ein Professor macht Ärger

Ein Professor macht Ärger

Der Geologe Nikolaus Froitzheim aß Fleisch, fuhr Auto und flog zu Konferenzen um die Welt. Jetzt klebt er sich auf Straßen fest, um das Klima zu retten.

(Erschienen in: Die ZEIT, Ressort Wissen, Ausgabe 39/2022. Zur Online-Version)

Zwölf Stunden vor seiner Festnahme sitzt Nikolaus Froitzheim in einem Hinterhof am Rande von Berlin und gähnt. Es ist 23 Uhr, Froitzheim blinzelt durch die Gläser seiner Nickelbrille. Der 64-jährige Professor ist heute nach seiner Master-Vorlesung "Geologie der Alpen" direkt in den Zug nach Berlin gestiegen, einmal quer durch die Republik, nur mit Rucksack. Jetzt sitzt er mit seinen sechs Mitstreitern im Kreis und bespricht die Strategie für morgen. Sie wollen eine Stadtautobahn blockieren – Klimaprotest.

Es ist stockduster. Ein Handydisplay hüllt Froitzheims Gesicht in weißes Licht, jemand zeigt ihm den Ort bei Google Street View: Abfahrt der Autobahn 103 in Steglitz, Westberlin, stadtauswärts, eine Ampel und zwei Spuren. Leise sagt er: "Dann muss ich das mit dem Festkleben dieses Mal auch schnell genug hinbekommen, nicht wie in Frankfurt." Ein anderer sagt: "Am besten, du setzt dich auf die Hand, dann ist sie fest." Froitzheim zieht die Augenbrauen hoch. Er nickt langsam, murmelt "okay", als sei er da in etwas Eine-Nummer-zu-Großes reingeraten.

Nikolaus Froitzheim ist Wissenschaftler, Spezialgebiet: Tektonik der Alpen. Er hat 111 Artikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht, lehrt am Steinmann-Institut für Geologie, Mineralogie und Paläontologie der Universität Bonn. Kommendes Semester bietet er drei Vorlesungen an, er organisiert Exkursionen, korrigiert Klausuren. Ein ganz normaler Professor, eigentlich.

Aber seit Kurzem ist Froitzheim auch Aktivist und damit Teil einer wachsenden Bewegung von Forschenden, die international für mehr Klimaschutz kämpfen. Meteorologinnen, Physiker, Biologinnen, aber auch Geisteswissenschaftler tun das im Namen der Gruppe Scientist Rebellion, die sich im vergangenen Jahr gründete. Nach eigenen Angaben machen derzeit Menschen aus 28 Ländern mit, aus Angola, Spanien, Deutschland; ihre Chatgruppe bei Signal zählt 646 Personen, Tendenz steigend.

Froitzheim sagt: "Ich will die Regierung zwingen, mehr gegen den Klimawandel zu tun." Beim Protest tragen er und seine Mitstreiter weiße Kittel. Sie wollen zeigen: Wir sind Experten und wissen, wovon wir reden! Die Gruppe eint das Gefühl, dass sich trotz aller Warnungen der Wissenschaftler seit Jahrzehnten zu wenig bewegt im Klimaschutz. Deshalb gehen sie andere Wege. Froitzheim macht mit – und fragt sich doch ständig: Ist das zielführend? Lässt sich die Klimaerhitzung mit zivilem Ungehorsam stoppen?

Am Morgen nach dem Hinterhoftreffen machen sich Froitzheim und seine Mitstreiter auf den Weg. Es ist 8.07 Uhr, als sie an der Stadtautobahn 103 ankommen. Blauer Himmel, Berufsverkehr, Blicke, links, rechts. Die Ampel springt auf Rot, sie treten auf die Fahrbahn und streifen die Kittel über. Froitzheims drahtige Arme halten ein großes Plakat. Es ist die erste Seite eines Fachaufsatzes: "Der Zusammenhang von Klimawandel, Landnutzung und Konflikten", veröffentlicht 2019 in der Fachzeitschrift Current Climate Change Reports. Dann setzen sich alle hin.

Die Ampel wird grün, aber kein Auto kommt mehr durch. Hände gestikulieren aus Seitenscheiben. Hupen. "Eeeh", brüllt ein Mann, "verpisst euch!" Ein anderer steigt aus, nimmt Froitzheims Plakat, knüllt es zusammen und schmeißt es ins Gebüsch. Froitzheim sitzt stumm da und blickt auf den Boden. In der Hand hält er eine Tube Sekundenkleber. Er schraubt sie auf, schmiert den Kleber in die linke Hand und presst sie mit aller Kraft auf den Asphalt.

"Eigentlich war ich immer unpolitisch", sagt Froitzheim ein paar Wochen vor der Blockade in seinem Haus bei Bonn. In den Achtzigern sei er mal auf eine Friedensdemo gegangen, zweimal habe er gegen den Bau einer Autobahn in der Nähe seines Wohnorts demonstriert, aber mehr nicht. Auf dem Holztisch im Bonner Wohnzimmer steht ein Brotkorb, es gibt einen Kamin, im Garten zwitschern Vögel. Froitzheim wohnt hier mit seiner Frau. Er wuchs auf im München der 1960er-Jahre, entdeckte dort die Liebe fürs Klettern, dann für Gestein im Allgemeinen. Er wurde Geologe. Fuhr mehrmals im Jahr in die Alpen. Froitzheim sah, wie sich seine geliebten Berge veränderten, zum Beispiel der Großvenediger, 3657 Meter hoch: "Wenn ich den früher von Bayern aus angeschaut habe, war das eine weiße Pyramide", sagt Froitzheim. "Heute ist er schwarz."

Froitzheim wusste, dass das am Klimawandel lag. Doch in der Uni-Kantine aß er Schnitzel, flog zu Konferenzen bis nach China, fuhr Auto und trug die Einkäufe in Plastiktüten nach Hause. "Wenn es im Winter geschneit hat, habe ich gedacht: Guck, ist ja doch nicht so krass", sagt Froitzheim. Er hat zwei Söhne, eine Tochter und drei Enkelkinder. "Als Mensch mit Familie, der seinen Lebensstil weiterführen möchte, hofft man: Vielleicht stabilisiert sich das Klima ja wieder." Er bezog Ökostrom, mehr tat er nicht. "Ich habe gedacht: nicht meine Baustelle, da kümmern sich andere drum."

Bis zum Sommer 2018. Damals zeigte der Klimaforscher Mojib Latif bei einer Tagung die sogenannte Keeling-Kurve, welche den Verlauf der CO₂-Konzentration in der globalen Atmosphäre darstellt. Sie beginnt im Jahr 1958, Froitzheims Geburtsjahr. Er blickte also gewissermaßen auf sein eigenes Leben und sah eine sich erhitzende Welt. "Latif erwähnte, dass es eine internationale Klimapolitik trotz aller Abkommen bisher praktisch nicht gegeben hat. Das hat mich schockiert", sagt Froitzheim. Vielleicht kümmerten sich doch nicht andere um das Thema?

Noch am Abend habe er sich vorgenommen, etwas zu tun. Zum Wintersemester bot er eine neue Vorlesung an: "Der Klimawandel aus geologischer Sicht". Ende 2018 ging er zu den ersten Fridays-for-Future-Demos in Köln, ein alter Mann unter Jugendlichen. Dann beteiligte er sich an Demonstrationen von Extinction Rebellion, wurde Veganer, fuhr mit dem Bus zu einer Konferenz nach Moskau. Als sich Anfang des Jahres die deutsche Scientist-Rebellion-Gruppe gründete, schloss Froitzheim sich an.

Bei der Blockade in Berlin klebt seine Hand am Boden, während Froitzheim mit einem Mann im grünen Pullover diskutiert, ein Baumpfleger.

Der Mann ruft: "Das ist keine Demonstration hier, das ist Ärgerei!"

"Es geht nicht gegen euch", antwortet Froitzheim, "es geht gegen die Regierung! Wenn wir noch mehr werden, dann sagt Scholz: Okay, wir haben ein Problem, wir müssen was machen! Die Bürgerrechtsbewegung in Indien, Mahatma Gandhi, die haben es genauso gemacht – und irgendwann haben die Briten gesagt: Okay, wir gehen!"

"Die haben aber keine Autobahnausfahrt versperrt!", ruft der Baumpfleger.

Auf die Frage, ob er wisse, dass Froitzheim Wissenschaftler sei, sagt er: "Nee, ist mir aber auch egal."

Eine Frau ruft aus dem Auto: "Ich bin doch auf eurer Seite, aber das ist der falsche Weg!"

Nach eineinhalb Stunden räumt die Polizei die Blockade. Ein Beamter pinselt Speiseöl auf Aktivistenhände, um sie zu lösen. Einer nach dem anderen wird weggetragen. Froitzheim sitzt als Letzter noch da, der Verkehr fließt an ihm vorbei. Ein Mann fotografiert ihn im Vorbeifahren. Ein anderer ruft: "Wichser!" Froitzheim sagt, ihm gingen solche Situationen oft noch Tage später durch den Kopf. "Ich muss mich überwinden, mich auf die Straße zu setzen", sagt er. Zur Ablenkung denke er an zu Hause, an seine Frau.

Als Froitzheims Hand vom Asphalt gelöst ist, tragen die Polizisten auch ihn weg. Sie verdrehen sein Handgelenk, Froitzheim verzieht vor Schmerz das Gesicht. Seine Personalien werden aufgenommen.

Untereinander sprechen sich die Aktivisten nur mit Vornamen an: Da ist Nana, 39, promovierte Biologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berliner Charité. Da ist Friedrich, 25, Masterstudent der Neurowissenschaften. Kyle, 29, Bachelor in Umweltwissenschaften. Janine, 58, Softwareingenieurin aus Schweden. Susanne, 55, Diplomphysikerin. Und Elmar, 53, Lehrer für Philosophie und Geschichte – mit dem Wort scientist, Wissenschaftler, nehmen sie es bei Scientist Rebellion nicht so genau, als wissenschaftliche Ausbildung reicht ein Bachelor.

Am Ende kommen alle frei. Nur Froitzheim nicht. Wieso, weiß keiner, die Polizisten wollen es nicht sagen. Um 11.07 Uhr steigt der Geologe mit seinem Kittel unterm Arm in den Polizeiwagen und wird weggebracht.

Froitzheim hofft, er könne mit seinem Protest Menschen dazu bringen, die Klimaerhitzung als Problem zu begreifen. Er hofft, dass sie sich fragen: Was bewegt die Wissenschaftler so sehr, dass sie sich dafür auf die Straße kleben? Ab einer gewissen Menge von Leuten erreiche die Stimmung in der Gesellschaft einen Kipppunkt – dann müsse die Politik handeln, sagt Froitzheim in seinem Haus in Bonn. Er wirkt entschlossen, aber er ist auch ein Zweifler. Er kann die Wirkung ja nicht messen, wie etwa Kohlenstoff-Ablagerungen im Gestein.

Immerhin: In seinem Umfeld sieht Froitzheim positive Entwicklungen. Ein Kollege aus der Uni, ein Wirtschaftswissenschaftler, war so beeindruckt von Froitzheims Engagement, dass er sich in Klimathemen einlas. Seit Kurzem forsche er zu Möglichkeiten, wie man bei Berechnungen des CO₂-Fußabdrucks auch Investitions- und Konsumentscheidungen berücksichtigen kann, erzählt er am Telefon. Und Froitzheims Frau berichtet von einer Bekannten, die nun selbst in der Klimabewegung aktiv werden wolle. Sie sagt aber auch: "Manche Freunde von uns finden total schlecht, was Niko macht."

Wenn man Froitzheim fragt, inwieweit er sich radikalisiert habe, atmet er tief ein. Er, sonst eher ein leiser Typ, wird dann plötzlich lauter und streicht unruhig mit der Hand über den Tisch. "Die Regierung plant neue Flüssiggasterminals. Habeck sagt, Versorgungssicherheit sei wichtiger als Klimaschutz. Die Mineralölkonzerne profitieren vom Ukraine-Krieg und sogar vom Tankrabatt – das nenne ich eine Radikalisierung! Ich setze mich friedlich auf die Straße", sagt Froitzheim. "Das ist nun wirklich nicht radikal." Wichtig sei ihm aber, Gewalt gegen Menschen auszuschließen – das sehen bei Scientist Rebellion alle so, die man fragt. "Ich möchte auch nichts kaputt machen", sagt Froitzheim. "Das liegt mir nicht." Kann er es ausschließen? Lange Pause. "Hm. Ausschließen kann ich es nicht." Seine Frau sagt: "Wenn Niko etwas kaputt macht, braucht er nicht mehr nach Hause zu kommen."

Und seine Rolle als Wissenschaftler, beißt sich die nicht mit dem Aktivismus? Sollte Wissenschaft nicht die Welt beschreiben, statt Veränderung zu erzwingen? "Als Forscher können wir zeigen, dass wir die Erkenntnisse der Wissenschaft so ernst nehmen, dass wir dafür auch aus der Komfortzone herausgehen", sagt Froitzheim. Für ihn und seine Mitstreiter steht ihr Aktivismus nicht im Widerspruch zur Forschung, er ist eher deren verlängerter Arm. Von der Universitätsleitung habe er noch kein negatives Feedback bekommen, sagt der Geologieprofessor. Loswerden kann ihn die Uni ohnehin nicht so leicht, selbst wenn sie wollte, er ist verbeamtet. Und von Kollegen habe er nur Positives gehört. "Viele sagen: Ich würde zwar selbst nicht protestieren, aber ich finde gut, was du machst." Manche seien sogar auffallend nett zu ihm, seit er Aktivist sei, sagt Froitzheim. Viele seiner Studierenden mögen, was er außerhalb des Hörsaals tut. Sie würden einen Dozenten, der sich so engagiert, sogar ernster nehmen, sagen einige nach einer Klimawandel-Vorlesung Froitzheims.

57 Prozent der Deutschen wünschen sich ein stärkeres Engagement von Wissenschaftlern bei der Bekämpfung des Klimawandels – das ergab eine 2021 in der Fachzeitschrift "Environmental Research Letters" veröffentlichte Studie. Ob das Straßenblockaden einschließt, wurde nicht gefragt.

Nachdem auf der Berliner Stadtautobahn 103 das Polizeiauto mit Froitzheim verschwunden ist, gehen einige aus der Gruppe nach Hause. Nur Susanne und Elmar bleiben übrig, die in Bonn wohnen und mit Froitzheim befreundet sind. Sie finden heraus, dass er in die Gefangenensammelstelle Nord gebracht wurde, bei Spandau, am anderen Ende der Stadt. Dort angekommen, setzen sie sich ins Gras vor das Backsteingebäude und warten. Um 15.29 Uhr geht eine Tür auf: Froitzheim schlappt heraus, den weißen Kittel über der Schulter. Elmar hat ein Croissant aufbewahrt, Froitzheim beißt hinein und lächelt müde. Die Polizisten haben seine Fingerabdrücke genommen, ihn gemessen, gewogen und wissen nun, dass er Spanisch spricht. Zwischendurch haben sie ihn in einer Zelle mit Neonlicht und Gittertür warten lassen.

Froitzheim zieht einen Zettel aus seiner Hemdtasche, auf dem steht: "Tatvorwurf/Ereignis: Widerstand; Nötigung im Straßenverkehr". Könnte heißen Geldstrafe oder Sozialstunden. Er ruft noch kurz seine Frau an, dann muss er zum Zug. Morgen ist wieder Vorlesung, in Bonn, Strukturgeologie II.

Foto-Credit: Marcus Glahn