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Großschadensereignis

Großschadensereignis

Auf Madeira verunglückt am 17. April ein Bus, in dem auch deutsche Urlauber sitzen. 29 Menschen sterben. Die Angehörigen vertrauen bei solchen Unglücken darauf, dass Behörden und Krisenstab den Überblick behalten. Und was, wenn nicht?

(Erschienen in: Der Spiegel, Ressort Reporter, Ausgabe 37/2019. Zur Online-Version)

Mittwoch vor Ostern, der 17. April, ist für Heidemarie und Klaus Ulrich der letzte Urlaubstag auf Madeira. Am nächsten Tag soll es zurückgehen nach Neumünster. Die beiden sind Rentner, sie verreisen mehrmals im Jahr, doch Madeira ist etwas Besonderes. Heidemarie Ulrich, 67, die von ihrem Mann und den beiden Söhnen Heidi genannt wird, fotografiert Pflanzen, so hat sie es auch auf Madeira gemacht, der Blumeninsel, die wie ein schwimmender Garten vor der Küste Marokkos liegt.

Für Klaus Ulrich, 80, ist Madeira ein Neuanfang. Im November haben ihm Ärzte eine künstliche Hüfte eingesetzt.

Am frühen Abend des 17. April steigen die Ulrichs zusammen mit 52 anderen deutschen Touristen in einen weißen Reisebus, sie wollen zu einem traditionellen Abendessen in die Inselhauptstadt Funchal. Der Bus verlässt das Hotel Quinta Splendida im Ortsteil Caniço gegen 18.30 Uhr Ortszeit, in Deutschland ist es 19.30 Uhr. Die Strecke führt die enge Estrada da Ponta Oliveira hinab.

Nach rund 200 Metern kommt eine scharfe Linkskurve. Der Hang fällt steil ab, in der Ferne kann man das Meer sehen. Leitplanken gibt es nicht.

Am selben Abend sitzt Stefan Ulrich, der Sohn der beiden Rentner, in seinem Haus in Steinbergkirche, nahe der Flensburger Förde, mit seiner Frau Natalie schaut er einen Film im Ersten. Für den Ostersonntag sind sie mit Stefans Eltern verabredet, Urlaubsbilder gucken. Dann läuft ein Banner durchs Bild, eine Eilmeldung.

Um 21.37 Uhr schickt Stefan Ulrich eine WhatsApp-Nachricht an seinen Bruder Jörn, der in Berlin lebt:

Schwerer Busunfall mit 28 Toten auf Madeira!

Echt?
Wo hast du das gesehen?

Aktuelle Meldung auf dem Ersten!

Stefan Ulrich schaltet zu den Nachrichten im ZDF.

Im »heute journal« sieht er einen Bus, der an einem Hang liegt, das Dach ist zur Hälfte abgerissen. Ulrich erkennt Menschen in Warnwesten, die anderen Menschen den Hang hinaufhelfen. Er hört die Sprecherin Gundula Gause sagen: »Auf der portugiesischen Insel Madeira hat es ein schweres Busunglück gegeben.« Und er hört den Satz: »Eine Sprecherin des Auswärtigen Amts sagte, dass möglicherweise auch Deutsche unter den Toten seien.«

»Ich habe sofort feuchte Hände bekommen«, sagt Stefan Ulrich.

Die Zahl der Toten wird sich später auf 29 erhöhen, 27 Menschen überleben verletzt, darunter der Fahrer und die portugiesische Reiseleiterin.

Für die Angehörigen daheim beginnt mit einer solchen Nachricht eine Zeit der Qual. Sie haben Fragen, auf die noch niemand Antworten hat: Wer ist betroffen? Wer hat überlebt? Wer kümmert sich? Wie kommen die Menschen zurück nach Hause, nach Deutschland? Bei einem Unglück wie auf Madeira hat der Staat seinen Bürgern gegenüber Pflichten, so steht es im Gesetz über den Auswärtigen Dienst, erster Abschnitt, Paragraf 1, Absatz 2: »Aufgabe des Auswärtigen Dienstes ist es insbesondere, Deutschen im Ausland Hilfe und Beistand zu leisten.«

So war es 2004 beim Tsunami im Indi- schen Ozean, bei dem mehr als 200.000 Menschen ums Leben kamen, darunter 534 Deutsche.

So war es 2015 beim Absturz der Germanwings-Maschine in Frankreich, bei dem 150 Menschen starben, darunter 72 Deutsche.

Jedes Mal dauert es Tage, mitunter Wochen, bis das letzte Opfer geborgen und identifiziert ist. Für die Angehörigen ist das kaum auszuhalten. Weil der Einzelne in dieser Zeit keinen klaren Gedanken fassen kann, braucht es Routinen. Und Profis, die Beistand leisten.

Das Auswärtige Amt ruft dann freiwillige Krisenhelfer zusammen, Minister fliegen um die Welt, um zu kondolieren, ausländische Standesbeamte stellen Sterbeurkunden aus, Bestattungsunternehmer müssen Särge finden, die internationalen Überführungsstandards entsprechen.

An diesem 17. April treffen die ersten Meldungen über das Busunglück gegen 20.30 Uhr beim Auswärtigen Amt ein, Am Werderschen Markt 1 in Berlin. Im Keller des Gebäudes befindet sich das Krisenreaktionszentrum, Referat 040, gelber Teppichboden führt zu einem Eckbüro, in dem rund um die Uhr zwei Beamte vom Dienst vor Bildschirmen verfolgen, was in der Welt passiert, Fernsehen, Social Media, Nachrichtenagenturen.

Die Beamten kontaktieren die Botschaft in Lissabon, die bei den portugiesischen Behörden nachfragt. Laut Krisentagebuch bestätigt die Botschaft um 22 Uhr: Ja, beim Unglück sind Deutsche involviert.

Die Beamten informieren auch Frank Hartmann. Hartmann ist der Krisenbeauftragte des Auswärtigen Amts, seine Leute haben Anweisung, ihn notfalls auch nachts aus dem Bett zu klingeln. Er hat den Job 2017 übernommen, zuvor war er im Bundeskanzleramt Referatsleiter für den Nahen und Mittleren Osten, Afrika, Asien und Lateinamerika; mit Krisen kennt er sich aus.

Am Mittwochabend sitzt er in seinem Büro, hinter seinem Schreibtisch hängt eine Weltkarte, auf der die Länder unterschiedliche Farben haben. Libyen oder Südsudan sind rot, Portugal ist weiß.

Hartmanns Aufgabe ist es, den Überblick zu behalten bei Unglücken, die im Sprachgebrauch der Beamten Großschadensereignis heißen. Ein paar Meter von Hartmanns Büro entfernt füllt sich ein weiterer Raum. Verbindungsbeamte des Bundeskriminalamts, des Verteidigungsministeriums und anderer Behörden besetzen Schreibtische, die U-förmig vor einer blau gestrichenen Wand stehen. Neun Uhren zeigen verschiedene Zeitzonen, eine von ihnen wird auf die Lokalzeit am Krisenort eingestellt: Madeira, UTC +1.

In einem weiteren Raum sitzen Freiwillige, durch Scheiben abgetrennt, sie gehören zu einer Gruppe von Mitarbeitern aus verschiedenen Referaten, die regelmäßig für Krisenfälle geschult werden. Sie nehmen die Anrufe entgegen, die unter der Notfallnummer des Auswärtigen Amts eingehen. An diesem Abend klingelt das Telefon 281-mal.

Um 21.59 Uhr schreibt Jörn Ulrich an seinen Bruder Stefan per WhatsApp: 

Kann das Krankenhaus in Funchal anrufen. Aber da versteht mich ja keiner.

Stefan Ulrich antwortet: 

Auf Englisch schon!

Und setzt hinzu: 

Ich habe bei beiden auf Band gesprochen!

Dass er weder seinen Vater noch seine Mutter erreicht, ist ungewöhnlich. Inzwischen, denkt er, müssten die beiden auf Madeira von dem Unglück gehört haben, sie müssten wissen, dass die Söhne in Sorge sind.

Wenig später geht Stefan Ulrich schlafen. Er ist Filialleiter bei einem Lebensmittel-Discounter, um fünf Uhr früh muss er im Laden stehen. Sein Bruder Jörn versucht weiter, Informationen zu bekommen. Aber weder die deutsche Botschaft in Lissabon noch das Reiseunternehmen wissen etwas. Mehrmals versucht er es bei der Notfallhotline des Auswärtigen Amts, mal ist die Leitung besetzt, mal hängt er in der Warteschleife und legt auf, einmal nach 19, ein andermal nach 10, ein drittes Mal nach 12 Minuten, das belegen Anrufprotokolle. Um 23.09 Uhr schreibt er an seinen Bruder Stefan:

Ich habe Angst und zitter.

Um 23.50 Uhr schreibt er:

Freizeichen, aber keiner nimmt ab. Das gibt es doch gar nicht.

Am nächsten Morgen eröffnet Frank Hartmann um neun Uhr in Berlin den Krisenstab.

Der Saal befindet sich hinter einer massiven Stahltür, fast einen halben Meter dick, es ist ein ehemaliger Tresorraum der Reichsbank, in dem die Nazis Gold gelagert hatten. Vom Kopf des Tisches aus blickt Hartmann auf Vertreter der Bundeswehr, des Innenministeriums, der Personalabteilung und weiterer Abteilungen. Auf der Videoleinwand erscheint die Stellvertreterin des deutschen Botschafters in Portugal, der Botschafter selbst ist schon am Morgen nach Madeira geflogen. Die Runde fragt: Wie reagieren wir? Brauchen wir Unterstützung vor Ort? Auf Madeira gibt es kein Konsulat. Der Krisenstab beschließt, eine deutsche Delegation solle auf die Insel fliegen.

Am späten Mittag des 18. April steigt Frank Hartmann am Flughafen Berlin-Tegel in einen Airbus 319 der Flugbereitschaft der Luftwaffe, seine Frau hat ihm noch schnell eine schwarze Krawatte ins Büro gebracht. Zum Krisenteam gehören Ärzte, Psychologen, eine Notfallsanitäterin und weitere Mitarbeiter des Auswärtigen Amts. Auch Außenminister Heiko Maas ist an Bord. Die Maschine fliegt direkt nach Funchal.

Er habe im Hotel angerufen, schreibt Jörn Ulrich an diesem Donnerstagvormittag an seinen Bruder Stefan, die Eltern seien nicht auf ihrem Zimmer.

Um 11.26 Uhr schreibt er:

Wir müssen jetzt stark sein und zusammenhalten

Nach der Arbeit rufen auch Stefan Ulrich und seine Frau Natalie bei der Botschaft und beim Auswärtigen Amt an. Niemand kann ihnen sagen, ob die Eltern leben. Auf der Homepage des Reiseunter- nehmens finden sie eine Telefonnummer, landen jedoch nur in einem Callcenter.

»Wir hätten eine Reise buchen können, aber eine Auskunft haben wir nicht bekommen«, sagt Natalie Ulrich.

Auf Madeira besuchen der Krisenbeauftragte Hartmann und Außenminister Maas den Unfallort. Maas steht in der Sonne, hinter ihm glitzert der Atlantik, er spricht von der sehr schwierigen Arbeit, »bei der keine Fehler gemacht werden dürfen«. Das Krisenteam fährt direkt ins Krankenhaus. Ärzte entscheiden darüber, wer transportfähig ist. Mitarbeiter des Auswärtigen Amts befragen die Verletzten: Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen? Vermissen Sie persönliche Gegenstände?

Noch in der Nacht fliegen Frank Hartmann und Außenminister Heiko Maas zurück nach Berlin. Maas twittert ein Bild von sich an der Unfallstelle, im Hintergrund das Meer:

Wir in Deutschland trauern mit den Ange- hörigen, die ihre Liebsten in #Madeira verloren haben. Unsere Gedanken sind bei ihren Familien. Unsere Gedanken sind auch bei den Verletzten, die wir heute ge- meinsam besucht haben.

Frank Hartmann sagt: »Die erste Phase der Krisenreaktion ist sehr schnell und gut gelaufen.«

Am Karfreitag, zwei Tage nach dem Unglück, wissen Stefan und Jörn Ulrich noch immer nicht, ob ihre Eltern unter den Opfern sind. Jörn ist trotzdem von Berlin nach Steinbergkirche gefahren, die Brüder wollen einander nahe sein.

Dann klingelt bei Stefan Ulrich das Telefon. Eine Mitarbeiterin des Auswärtigen Amts: Klaus und Heidemarie Ulrich waren in dem verunglückten Bus. Klaus Ulrich sei identifiziert und verstorben, sagt sie, Heidemarie Ulrich sei noch nicht identifiziert, aber definitiv nicht unter den Überlebenden im Krankenhaus.

Stefan Ulrich steht wie gelähmt in der Küche, minutenlang bekommt er kein Wort heraus. Jörn Ulrich weint. Natalie Ulrich steht dazwischen und versucht zu trösten.

Der Anruf des Auswärtigen Amts ist ein Schlusspunkt. Die Zeit der Ungewissheit ist vorbei. Eine Todesnachricht ist traurig, aber sie erleichtert auch. Nur wer Gewissheit hat, kann anfangen zu trauern.

Am Ostersamstag sitzen die Ulrichs in ihrem roten Backsteinhaus, auf dem Küchentisch liegt ein Zettel für die Beerdigungsvorbereitungen. Stichwörter sind dort notiert: Testament, Versicherung, Haus. Aufgaben sind wichtig, Aufgaben lenken ab.

Am Vormittag klingelt das Telefon, noch einmal das Auswärtige Amt in Berlin: »Ich kann Ihnen sagen, dass Ihre Mutter noch lebt«, an diese Worte erinnern sich die Ulrichs bis heute. Heidemarie Ulrich werde noch am selben Tag mit anderen Verletzten in ein Kölner Krankenhaus geflogen.

Die Ulrichs machen sich auf den Weg nach Köln, hoffnungsvoll und ein wenig ungläubig. In Neumünster fahren sie kurz von der Autobahn, zum Haus der Eltern. Stefan Ulrich sollen Speichelproben abgenommen werden, die Beamten packen außerdem Gegenstände der Eltern ein, einen Kamm, eine Zahnbürste, ein Taschentuch. Die portugiesischen Rechtsmediziner haben die Obduktion der Opfer schon abgeschlossen, doch deren Identität steht noch nicht zweifelsfrei fest. Dafür benötigen sie DNA-Informationen, die vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden gesammelt und dann elektronisch nach Portugal übermittelt werden.

Auf dem Kölner Flughafen landet am Nachmittag der Airbus A310 MedEvac der Luftwaffe, eine fliegende Intensivstation, ausgestattet mit Beatmungsgeräten, Defibrillatoren und Ultraschall. An Bord sind 15 Verletzte aus Madeira, darunter, so heißt es, Heidemarie Ulrich.

Am Sonntag treffen die Ulrichs auf der Intensivstation der Klinik Köln-Merheim ein. Es ist der Tag, an dem sie mit ihren Eltern verabredet waren, um die Urlaubsfotos anzuschauen.

Stefan Ulrich zieht sich einen Besucherkittel an, streift Handschuhe über und geht den Flur entlang in einen Raum, in dem eine Frau liegt. Ihre braunen, leicht gräulichen Haare sind zurückgekämmt, die Augen geschwollen. Über dem rechten Auge ist eine Beule zu erkennen, ein Beatmungsschlauch verdeckt einen Teil des Gesichts. Sie zeigt keinerlei Reaktion. Stefan Ulrich streichelt ihr über die Schulter, seine Frau Natalie hält die Hand, die unter der Decke hervorschaut.

Zwei Tage lang, am Ostersonntag und am Ostermontag, warten die drei am Krankenbett darauf, dass es Heidemarie Ulrich besser geht.

Am Dienstag entfernen die Ärzte den Beatmungsschlauch. Die Frau versucht zu sprechen. Ihre Stimme ist rau, sie röchelt, sie ist kaum zu verstehen.

Am Mittwoch geht es besser. Stefan Ulrich fällt auf, dass ihre Zähne dunkler sind, als er es von seiner Mutter in Erinnerung hat. Natalie Ulrich starrt auf den Haaransatz der Frau, der ihr fremd vorkommt. Etwas stimmt nicht.

Am Abend untersuchen die Ulrichs die persönlichen Gegenstände der Frau, die in einer weißen Tüte nach Deutschland gekommen sind. Die Kamera von Heidemarie Ulrich, ein Schlüsselanhänger in Form eines »H«, das Portemonnaie mit dem Personalausweis. Aber auch ein Ring, den sie noch nie an ihr gesehen haben.

Am Donnerstag teilen Beamte den Ulrichs mit, dass die Frau nicht Heidemarie Ulrich ist. Sie haben am Bett einer Fremden gewacht, einer Frau aus Hannover, die Heidemarie Ulrich zufällig ähnlich sieht.

»Ich fand das noch schlimmer als bei der ersten Todesnachricht«, sagt Natalie Ulrich.

Dass in der Tüte der richtige Pass neben dem falschen Ring lag, war ein Versehen der Helfer.

»Von außen wirkt es komisch: Wie erkennt man seine eigene Mutter nicht?«, sagt Stefan Ulrich in seinem aufgeräumten Wohnzimmer in Steinbergkirche. »Aber uns wurde von den Ärzten gesagt, das ist Heidi. Da achtet man nicht auf Details.«

Die Verwechslung war über das Osterwochenende geschehen, wenige Stunden vor Abflug der Maschine, die die Überlebenden von Madeira nach Köln bringen sollte. Am Morgen gab es eine Verletzte, die noch nicht identifiziert war. Das Krisenteam entschied, sie solle in Deutschland behandelt werden, doch zunächst wollte man ihren Namen herausfinden. Die Ärzte weckten die Frau aus dem künstlichen Koma. Eine Mitarbeiterin des Auswärtigen Amts zeigte ihr eine Buchstabentafel, auf der das Alphabet, Zahlen und portugiesische Wörter zu sehen waren, ein Verfahren, das in ähnlicher Form in der deutschen Intensivmedizin angewandt wird. Beim »U« habe die Frau mehrmals reagiert. Man habe sie gefragt, ob »Ulrich« ihr Name sei, sagt Frank Hartmann: »Darauf hat sie positiv reagiert. Alles passierte in dem Willen, eine schwer verletzte Person zu evakuieren. Das sind schwierige Abwägungen.«

Zu den Abwägungen gehört immer auch die Frage, wann man die Angehörigen informiert. Sie wollen wissen, was los ist, so schnell wie möglich; ein Informationsdefizit bedeutet Stress. Daheim, im Wohnzimmer, ticken die Uhren langsamer als unterwegs im Kriseneinsatz, wo jede Sekunde etwas passiert. Allerdings wollen Angehörige keine Wahrscheinlichkeiten, sondern Gewissheit. Gewissheit aber braucht Zeit.

Am Freitag fahren die Ulrichs zurück nach Steinbergkirche, am Samstag erhalten sie offiziell die Nachricht, dass Heidemarie Ulrich identifiziert wurde. Sie beginnen damit an, die Beerdigung vorzu- bereiten.

Allerdings müssen die Leichen erst einmal zurück nach Deutschland gebracht werden. In den Tagen nach Ostern klingelt deshalb in einer Kasseler Wohnsiedlung das Telefon, Dominik Kracheletz betreibt dort die Firma Tohr – Weltweite Überführungen GmbH, die Abkürzung steht für Transportation of Human Remains.

Er ist ein großer Mann mit Fliege, er hat mehrere Bestattungshäuser, eines davon auf Sylt. Vor Jahren hatten ihn Menschen damit beauftragt, ihre Angehörigen zurück nach Deutschland zu holen. Kracheletz kannte sich nicht aus. Als er merkte, dass sich auch sonst niemand auskannte, gründete er Tohr. Heute organisiert er jedes Jahr die Überführung von rund 1600 Verstorbenen.

Eine Überführung dauere bei ihm »zwischen drei Tagen aus dem türkischen Antalya bis zu einem halben Jahr aus China«, sagt Kracheletz. »Aber China haben wir nur einmal im Quartal.« Unter den Verunglückten sind Bergsteiger, aus Österreich oder der Schweiz, oft trifft es auch Jugendliche auf Abschlussreise, die sich überschätzen und betrunken in ein Boot steigen.

Kracheletz engagiert auf Madeira eine Kollegin, die den portugiesischen Bestattern vor Ort zuarbeiten soll. Seine Angestellten in Kassel übersetzen Antragsformulare, besorgen Papiere der Verstorbenen, Heiratsurkunden, Scheidungsurkunden, Stammbücher, ohne diese Unterlagen kann auch ein deutscher Standesbeamter keine Sterbeurkunde ausstellen. Und sie helfen, geeignete Särge zu finden.

Denn die Bestatter dürfen Verstorbene nicht einfach in einen Sarg legen und nach Hause verfrachten, es gibt Bestimmungen wie das »Übereinkommen über Leichenbeförderung« aus dem Jahr 1973. Dort legte der Europarat fest, ein zugelassener Sarg bestehe »aus einem äußeren Holzsarg mit einer Wandstärke von mindestens 20 mm und einem sorgfältig verlöteten inneren Sarg aus Zink oder aus einem anderen selbstzersetzenden Stoff«, alternativ könne der Sarg mit dem gleichen Material ausgekleidet werden, wenn das Holz dafür dicker ist. Jedem Sarg muss ein Leichenpass beigelegt werden, ein weißes Schriftstück, auf dem der Name notiert ist, der Start der Reise und das Ziel, wie bei einem Flugticket.

Am 1. Mai startet eine Maschine der portugiesischen Luftwaffe in Madeira und liefert abends die ersten 18 Särge in Frankfurt an. Kracheletz steht selbst auf dem Rollfeld, im Frachtraum des Flugzeugs blickt er auf die dunkel verhüllten Kästen, die mit Gurten am Boden fixiert sind. Er geht die Särge durch, eins, zwei, drei, ordnet die Namen den Autos zu, auch Heidemarie und Klaus Ulrich sind darunter. »Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn wir Verstorbene falsch anliefern«, sagt er. Am Tag darauf landet die Maschine erneut in Frankfurt, dieses Mal befinden sich elf Leichen an Bord.

Jörn Ulrich schreibt am selben Tag eine Mail an den Außenminister:

Hallo Herr Maas, Jörn Ulrich ist mein Name ... Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, wie wir uns durch diese Fehlinformationen vom Auswärtigen Amt in dieser Zeit gefühlt haben und auch immer noch fühlen. Mit tieftraurigem Gruß

Joern Ulrich

Die Antwort des Außenministers umfasst eineinhalb Seiten. Maas spricht sein Beileid aus, schildert den Hergang auf Madeira, versichert aber, »dass alle Beteiligte nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben«. Der Brief endet mit:

Mit stillem Gruß

Heiko Maas

Mittlerweile liegt das Busunglück von Madeira knapp fünf Monate zurück. Es gibt das Video einer Überwachungskamera, das zeigt, wie der Bus in der engen Kurve die Straße verlässt, die Vorderräder in der Luft, wie er sich mehrmals überschlägt und schließlich zum Liegen kommt. Die Ermittlungen der portugiesischen Staatsanwaltschaft sind bis heute nicht abgeschlossen. Möglich, dass die Bremsen des Busses defekt waren, denkbar auch, dass der Fahrer übermüdet war.

Stefan Ulrich hat die Beerdigung seiner Eltern organisiert, sie liegen auf dem Friedhof in Neumünster, inmitten von Rhododendren. 150 Trauergäste kamen, so viele, dass sie auf eine größere Kirche ausweichen mussten. Er hat Daueraufträge gekündigt, die Telefone umgeleitet, Kleidersäcke zur Tafel getragen. Das Haus seiner Eltern ist noch nicht verkauft, aber er hat das Unkraut gejätet und die Hecken geschnitten.

Stefan Ulrich hat auch Frank Hartmann getroffen, den Krisenbeauftragten des Auswärtigen Amts. Hartmann hat eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, die Ulrichs über eine Frau zu unterrichten, die nicht zweifelsfrei identifiziert war.

In der Zeitung haben die Ulrichs eine Traueranzeige geschaltet, rechts oben steht ein Bibelzitat, erster Korintherbrief, Kapitel 13: »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«

Was ihnen sonst geblieben ist?

Die Armbanduhr ihres Vaters, ein Anhänger mit einem »H« für Heidi, die Eheringe. Und eine Kamera mit Urlaubsfotos.

(Foto Anzeigebild: Milos Djuric)